Ein Spin-Off der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel.
27. Jahrgang (2024) - Ausgabe 4 (April) - ISSN 1619-2389
 
 RESTRUKTURIERUNGSMAGAZIN
   Zeitschrift für Restrukturierung, Sanierung
   und strategische Unternehmensführung
   ISSN 1867-7517
   www.restrukturierungsmagazin.de

"Bei Mittelstandsanleihen liegt die Insolvenzwahrscheinlichkeit bei über zehn Prozent"

Ob "bondm" an der Börse Stuttgart, "m:access" an der Börse München oder der "Entry Standard" der Börse Frankfurt – seit Mai 2010 sind zahlreiche Plattformen für Mittelstandsanleihen entstanden. Doch mittlerweile sprechen die Medien bereits vom "Tummelplatz für Sanierungsfälle" (Die Welt, 05. April 2016) und "Junkfood für Anleger" (Die Zeit, 18. Juni 2015). Gleichwohl konnten die Anleger zum Zeitpunkt der Emission eigentlich auf die Einschätzung einer Ratingagentur vertrauen. Warum die Frühwarnung vor einer drohenden Insolvenz in diesem Kapitalmarktsegment nicht immer funktioniert hat, erläutert Prof. Dr. Werner Gleißner, Vorstand der FutureValue Group AG in Leinfelden-Echterdingen und Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Krisenmanagement e.V. (DGfKM), im Gespräch mit dem Restrukturierungsmagazin.

Restrukturierungsmagazin: Nach Berechnungen des "Handelsblatt" landete fast jeder achte Euro, den Anleger in Mittelstandsanleihen investiert haben, in einer Pleitefirma – beispielsweise bei Windreich, getgoods.de, Zamek, German Pellets oder MS Deutschland. Hätten die Anleger die spätere Insolvenz schon zum Zeitpunkt der Emission an Warnmeldungen – beispielsweise an einem schwachen Rating - erkennen können?

Prof. Dr. Werner Gleißner: Nein. An den im Allgemeinen guten Ratingnoten waren die hohen Insolvenzrisiken zum Zeitpunkt der Emission für die Anleger nicht erkennbar. In einer empirischen Studie* mit rund 100 Mittelstands-Bonds haben wir festgestellt, dass die durch die Ratingnoten vorhergesagte Insolvenzwahrscheinlichkeit eigentlich unter einem Prozent pro Jahr hätte liegen sollen. Die tatsächliche Insolvenzwahrscheinlichkeit lag dann aber weit über zehn Prozent. Die Ratingnoten haben also über die bestehenden Risiken hinweggetäuscht. Unsere Studie hat auch gezeigt, dass die Ratingnoten insgesamt deutlich zu gut und außerdem nicht adäquat "risikoadjustiert" waren. Die unterschiedlichen Risiken der Unternehmen wurden also nicht adäquat berücksichtigt.

Ein Anleger hätte aber sehr wohl in vielen Fällen erkennen können, dass bei einem Unternehmen irgendetwas nicht stimmt und die Ratingnote nicht aussagefähig sein kann. Viele Unternehmen mit einer Ratingnote, die Investmentgrade anzeigt (BBB- oder besser), haben Zinskupons von sieben Prozent oder mehr angeboten. So etwas kann natürlich nicht sein. Unternehmen, die tatsächlich Investmentgrade haben, haben es nicht nötig, so hohe Zinsen zu zahlen. Wenn man also nicht annehmen möchte, dass die Unternehmensführung im großen Stil Geld verschenken möchte, bleibt nur eine Schlussfolgerung: Die Ratingnote ist zu gut und entsprechend die Insolvenzwahrscheinlichkeit viel höher, als dies die Ratingnote ausdrückt. Dies ist ein klarer Warnhinweis.

Restrukturierungsmagazin: Damit gilt am Kapitalmarkt also weiter der Grundsatz: Je höher die Rendite, desto höher das Risiko. Mittelstandsanleihen lockten und locken dagegen viele Anleger einerseits mit attraktiven Zinskupons und signalisieren andererseits durch das Wort "Mittelstand" den Eindruck von Solidität und Stabilität – also einem geringen Risiko. Inwieweit müssten Emissionsratings im Lichte dieses Widerspruchs und Ihrer Studienergebnisse zukünftig angepasst werden?

Prof. Dr. Werner Gleißner: Zunächst einmal gilt in einem näherungsweise effizienten Kapitalmarkt, dass eine höhere erwartete Rendite nur mit einem höheren Risiko erreicht werden kann. Die zu erwartende Rendite der Fremdkapitalgeber, also der Käufer eines Mittelstands-Bonds, ist aber nicht etwa der Zinskupon. Eine Rendite, die der Käufer einer Mittelstands-Anleihe erwarten kann, bekommt man erst, wenn man vom Zinskupon die Insolvenzwahrscheinlichkeit abzieht. Schon bei Betrachtung weniger Finanzkennzahlen, wie Eigenkapitalquote und Gesamtkapitalrendite, kann man die Insolvenzwahrscheinlichkeit grob abschätzen. Im Allgemeinen gelingt dies sogar besser als durch die meisten Emissionsratings. Die wirklich zu erwartende Rendite lag und liegt also deutlich niedriger als dies bei alleiniger Betrachtung der Zinskupons erscheint. Im Ergebnis verbinden also viele Mittelstands-Anleihen eine niedrige zu erwartende Rendite mit hohen Risiken – einige positive Ausnahmen bestätigen eher diese Regel.

In einem realen, unvollkommenen Kapitalmarkt findet man solche Situationen allerdings oft. Investoren müssen sich vor einer Anlageentscheidung schon recht intensiv mit den zu erwartenden Erträgen und den Risiken eines Bonds oder einer Aktie befassen. Man darf nicht einfach unterstellen, dass Ertrag und Risiko schon zueinander "passen" würden. Eine ganze Reihe empirischer Studien** zu den Aktienmärkten zeigen auch, dass oft gerade Unternehmen mit einem niedrigen Ertragsrisiko und niedriger Insolvenzwahrscheinlichkeit an der Börse eine überdurchschnittliche Aktienrendite erzielen. Dies steht ganz im Gegensatz zu den Vorhersagen, die auf der Hypothese vollkommener Märkte basieren. Der Grund liegt darin, dass Ertragsrisiken und Insolvenzwahrscheinlichkeit in den Börsenkursen eben nicht optimal erfasst sind. Die Kapitalmärkte sind unvollkommen, was Anlegern interessante Möglichkeiten bietet. Bei der Erstellung von Ratings müssen Unternehmensrisiken analysiert, aggregiert und bei der Festlegung der Ratingnote adäquat erfasst werden.

Restrukturierungsmagazin: Verglichen mit Großunternehmen setzen kleine und mittelständische Unternehmen deutlich weniger Ressourcen für ihre Finanzmarktkommunikation ein. Folglich mangelt es Anlegern zum Emissionszeitpunkt an klaren Signalen für das zu erwartende Ertragsniveau und das damit verbundene Ertragsrisiko des Anlageprodukts. Woran – wenn nicht am Rating – können Anleger die Emissionsrendite und die Insolvenzwahrscheinlichkeit verlässlich abschätzen?

Prof. Dr. Werner Gleißner: Anders als bei den Corporate Ratings, die zum Beispiel Standard & Poor's und Moody‘s für Großkonzerne erstellen, waren viele Ratings von Mittelstandsbonds wenig aussagefähig. Zum einen kann man einen groben Schätzer für die Insolvenzwahrscheinlichkeit auch bereits durch die in der Literatur veröffentlichten relativ einfachen Formeln aus Jahresabschluss-Kennzahlen, wie Eigenkapitalquote und Gesamtkapitalrendite, ableiten. Zum anderen ist es für eine wirklich verlässliche Schätzung zusätzlich sinnvoll, die Ertragsrisiken eines Unternehmens einzuschätzen, also zum Beispiel die Cashflow-Volatilität. Dies ist für Experten, die sich mit Risikoquantifizierung und Risikosimulation befassen, schon lange kein großes Problem.

Eigentlich sollten die Risikomanagementsysteme der Unternehmen im Rahmen der gesetzlich geforderten Früherkennung "bestandsgefährdender Entwicklungen" eine solche Risikoaggregation selbst durchführen. Hierdurch kann gezeigt werden, ob durch Kombinationseffekte bestehender Einzelrisiken bestandsbedrohende Entwicklungen auftreten könnten, also beispielsweise Covenants verletzt werden. Leider wird diese zentrale Anforderung des Gesetzes zur Kontrolle und Transparenz im Unternehmensbereich (KonTraG) in vielen Unternehmen noch ignoriert. Selbst Unternehmen, die die Risikoaggregation durchführen, stellen diese Informationen öffentlich oft nicht zur Verfügung. Damit bleibt es oft intransparent, wie groß der tatsächliche Risikoumfang eines Unternehmens ist.

Will man also mehr als die Insolvenzwahrscheinlichkeit durch recht simple Bilanzkennzahlen abschätzen, wird es für Privatanleger schwierig. In den meisten Fällen kann man den Betroffenen dann vermutlich nur raten, auf Investitionen zu verzichten, die augenscheinlich ein hohes Maß an Intransparenz bezüglich der Risiken aufweisen. Gerade bei den meisten Emittenten von Mittelstandsbonds besteht ein solch hohes Maß an Intransparenz über die Unternehmensrisiken. Insgesamt ist zu hoffen, dass diese Unternehmen selbst beginnen, die quantitativen Verfahren ihres Risikomanagements zu verbessern. Hierdurch schaffen sie die Grundlage, um fundiert, nachvollziehbar und quantitativ über bestehende Risiken zu informieren. Sie stellen damit genau jene Informationen bereit, die für die Ratingagenturen und Privatanleger hilfreich wären.

Zitierte Studien:

* ) Werner Gleißner / Stephan Mahn, Teil I: Sind die Ratings der Mittelstands-Anleihen aussagefähig? in: Kredit & Rating Praxis (KRP), Heft 4 / 2016 und Werner Gleißner / Stephan Mahn, Teil II: Sind die Ratings der Mittelstands-Anleihen aussagefähig?, in: Kredit & Rating Praxis (KRP), Heft 5 / 2016

**)  Werner Gleißner, Kapitalmarktorientierte Unternehmensbewertung: Erkenntnisse der empirischen Kapitalmarktforschung und alternative Bewertungsmethoden, in: Corporate Finance, Heft 4 / 2014

© 2016 Krisennavigator. Alle Rechte vorbehalten.
Stand der Informationen: 12. August 2016.


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Ob "bondm" an der Börse Stuttgart, "m:access" an der Börse München oder der "Entry Standard" der Börse Frankfurt – seit Mai 2010 sind zahlreiche Plattformen für Mittelstandsanleihen entstanden. Doch mittlerweile sprechen die Medien bereits vom "Tummelplatz für Sanierungsfälle" (Die Welt, 05. April 2016) und "Junkfood für Anleger" (Die Zeit, 18. Juni 2015). Gleichwohl konnten die Anleger zum Zeitpunkt der Emission eigentlich auf die Einschätzung einer Ratingagentur vertrauen. Warum die Frühwarnung vor einer drohenden Insolvenz in diesem Kapitalmarktsegment nicht immer funktioniert hat, erläutert Prof. Dr. Werner Gleißner, Vorstand der FutureValue Group AG in Leinfelden-Echterdingen und Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Krisenmanagement e.V. (DGfKM), im Gespräch mit dem Restrukturierungsmagazin.

Restrukturierungsmagazin: Nach Berechnungen des "Handelsblatt" landete fast jeder achte Euro, den Anleger in Mittelstandsanleihen investiert haben, in einer Pleitefirma – beispielsweise bei Windreich, getgoods.de, Zamek, German Pellets oder MS Deutschland. Hätten die Anleger die spätere Insolvenz schon zum Zeitpunkt der Emission an Warnmeldungen – beispielsweise an einem schwachen Rating - erkennen können?

Prof. Dr. Werner Gleißner: Nein. An den im Allgemeinen guten Ratingnoten waren die hohen Insolvenzrisiken zum Zeitpunkt der Emission für die Anleger nicht erkennbar. In einer empirischen Studie* mit rund 100 Mittelstands-Bonds haben wir festgestellt, dass die durch die Ratingnoten vorhergesagte Insolvenzwahrscheinlichkeit eigentlich unter einem Prozent pro Jahr hätte liegen sollen. Die tatsächliche Insolvenzwahrscheinlichkeit lag dann aber weit über zehn Prozent. Die Ratingnoten haben also über die bestehenden Risiken hinweggetäuscht. Unsere Studie hat auch gezeigt, dass die Ratingnoten insgesamt deutlich zu gut und außerdem nicht adäquat "risikoadjustiert" waren. Die unterschiedlichen Risiken der Unternehmen wurden also nicht adäquat berücksichtigt.

Ein Anleger hätte aber sehr wohl in vielen Fällen erkennen können, dass bei einem Unternehmen irgendetwas nicht stimmt und die Ratingnote nicht aussagefähig sein kann. Viele Unternehmen mit einer Ratingnote, die Investmentgrade anzeigt (BBB- oder besser), haben Zinskupons von sieben Prozent oder mehr angeboten. So etwas kann natürlich nicht sein. Unternehmen, die tatsächlich Investmentgrade haben, haben es nicht nötig, so hohe Zinsen zu zahlen. Wenn man also nicht annehmen möchte, dass die Unternehmensführung im großen Stil Geld verschenken möchte, bleibt nur eine Schlussfolgerung: Die Ratingnote ist zu gut und entsprechend die Insolvenzwahrscheinlichkeit viel höher, als dies die Ratingnote ausdrückt. Dies ist ein klarer Warnhinweis.

Restrukturierungsmagazin: Damit gilt am Kapitalmarkt also weiter der Grundsatz: Je höher die Rendite, desto höher das Risiko. Mittelstandsanleihen lockten und locken dagegen viele Anleger einerseits mit attraktiven Zinskupons und signalisieren andererseits durch das Wort "Mittelstand" den Eindruck von Solidität und Stabilität – also einem geringen Risiko. Inwieweit müssten Emissionsratings im Lichte dieses Widerspruchs und Ihrer Studienergebnisse zukünftig angepasst werden?

Prof. Dr. Werner Gleißner: Zunächst einmal gilt in einem näherungsweise effizienten Kapitalmarkt, dass eine höhere erwartete Rendite nur mit einem höheren Risiko erreicht werden kann. Die zu erwartende Rendite der Fremdkapitalgeber, also der Käufer eines Mittelstands-Bonds, ist aber nicht etwa der Zinskupon. Eine Rendite, die der Käufer einer Mittelstands-Anleihe erwarten kann, bekommt man erst, wenn man vom Zinskupon die Insolvenzwahrscheinlichkeit abzieht. Schon bei Betrachtung weniger Finanzkennzahlen, wie Eigenkapitalquote und Gesamtkapitalrendite, kann man die Insolvenzwahrscheinlichkeit grob abschätzen. Im Allgemeinen gelingt dies sogar besser als durch die meisten Emissionsratings. Die wirklich zu erwartende Rendite lag und liegt also deutlich niedriger als dies bei alleiniger Betrachtung der Zinskupons erscheint. Im Ergebnis verbinden also viele Mittelstands-Anleihen eine niedrige zu erwartende Rendite mit hohen Risiken – einige positive Ausnahmen bestätigen eher diese Regel.

In einem realen, unvollkommenen Kapitalmarkt findet man solche Situationen allerdings oft. Investoren müssen sich vor einer Anlageentscheidung schon recht intensiv mit den zu erwartenden Erträgen und den Risiken eines Bonds oder einer Aktie befassen. Man darf nicht einfach unterstellen, dass Ertrag und Risiko schon zueinander "passen" würden. Eine ganze Reihe empirischer Studien** zu den Aktienmärkten zeigen auch, dass oft gerade Unternehmen mit einem niedrigen Ertragsrisiko und niedriger Insolvenzwahrscheinlichkeit an der Börse eine überdurchschnittliche Aktienrendite erzielen. Dies steht ganz im Gegensatz zu den Vorhersagen, die auf der Hypothese vollkommener Märkte basieren. Der Grund liegt darin, dass Ertragsrisiken und Insolvenzwahrscheinlichkeit in den Börsenkursen eben nicht optimal erfasst sind. Die Kapitalmärkte sind unvollkommen, was Anlegern interessante Möglichkeiten bietet. Bei der Erstellung von Ratings müssen Unternehmensrisiken analysiert, aggregiert und bei der Festlegung der Ratingnote adäquat erfasst werden.

Restrukturierungsmagazin: Verglichen mit Großunternehmen setzen kleine und mittelständische Unternehmen deutlich weniger Ressourcen für ihre Finanzmarktkommunikation ein. Folglich mangelt es Anlegern zum Emissionszeitpunkt an klaren Signalen für das zu erwartende Ertragsniveau und das damit verbundene Ertragsrisiko des Anlageprodukts. Woran – wenn nicht am Rating – können Anleger die Emissionsrendite und die Insolvenzwahrscheinlichkeit verlässlich abschätzen?

Prof. Dr. Werner Gleißner: Anders als bei den Corporate Ratings, die zum Beispiel Standard & Poor's und Moody‘s für Großkonzerne erstellen, waren viele Ratings von Mittelstandsbonds wenig aussagefähig. Zum einen kann man einen groben Schätzer für die Insolvenzwahrscheinlichkeit auch bereits durch die in der Literatur veröffentlichten relativ einfachen Formeln aus Jahresabschluss-Kennzahlen, wie Eigenkapitalquote und Gesamtkapitalrendite, ableiten. Zum anderen ist es für eine wirklich verlässliche Schätzung zusätzlich sinnvoll, die Ertragsrisiken eines Unternehmens einzuschätzen, also zum Beispiel die Cashflow-Volatilität. Dies ist für Experten, die sich mit Risikoquantifizierung und Risikosimulation befassen, schon lange kein großes Problem.

Eigentlich sollten die Risikomanagementsysteme der Unternehmen im Rahmen der gesetzlich geforderten Früherkennung "bestandsgefährdender Entwicklungen" eine solche Risikoaggregation selbst durchführen. Hierdurch kann gezeigt werden, ob durch Kombinationseffekte bestehender Einzelrisiken bestandsbedrohende Entwicklungen auftreten könnten, also beispielsweise Covenants verletzt werden. Leider wird diese zentrale Anforderung des Gesetzes zur Kontrolle und Transparenz im Unternehmensbereich (KonTraG) in vielen Unternehmen noch ignoriert. Selbst Unternehmen, die die Risikoaggregation durchführen, stellen diese Informationen öffentlich oft nicht zur Verfügung. Damit bleibt es oft intransparent, wie groß der tatsächliche Risikoumfang eines Unternehmens ist.

Will man also mehr als die Insolvenzwahrscheinlichkeit durch recht simple Bilanzkennzahlen abschätzen, wird es für Privatanleger schwierig. In den meisten Fällen kann man den Betroffenen dann vermutlich nur raten, auf Investitionen zu verzichten, die augenscheinlich ein hohes Maß an Intransparenz bezüglich der Risiken aufweisen. Gerade bei den meisten Emittenten von Mittelstandsbonds besteht ein solch hohes Maß an Intransparenz über die Unternehmensrisiken. Insgesamt ist zu hoffen, dass diese Unternehmen selbst beginnen, die quantitativen Verfahren ihres Risikomanagements zu verbessern. Hierdurch schaffen sie die Grundlage, um fundiert, nachvollziehbar und quantitativ über bestehende Risiken zu informieren. Sie stellen damit genau jene Informationen bereit, die für die Ratingagenturen und Privatanleger hilfreich wären.

Zitierte Studien:

* ) Werner Gleißner / Stephan Mahn, Teil I: Sind die Ratings der Mittelstands-Anleihen aussagefähig? in: Kredit & Rating Praxis (KRP), Heft 4 / 2016 und Werner Gleißner / Stephan Mahn, Teil II: Sind die Ratings der Mittelstands-Anleihen aussagefähig?, in: Kredit & Rating Praxis (KRP), Heft 5 / 2016

**)  Werner Gleißner, Kapitalmarktorientierte Unternehmensbewertung: Erkenntnisse der empirischen Kapitalmarktforschung und alternative Bewertungsmethoden, in: Corporate Finance, Heft 4 / 2014

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Stand der Informationen: 12. August 2016.

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