Ein Spin-Off der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel.
27. Jahrgang (2024) - Ausgabe 4 (April) - ISSN 1619-2389
 

Prozeßstörungen als Risikofakto
in der chemischen Industrie:
Der Fall "Bhopal" von Union Carbide

von Dr. Marc Pohlkamp, Andreas Rolf und Wolfgang Schräder

Überblick

Am 3. Dezember 1984 ereignete sich im indischen Bhopal eine der größten Katastrophen in der Geschichte der industriellen Chemie. Im Werk der Union Carbide of India Limited, einer Tochtergesellschaft der Union Carbide Corporation, explodierte ein Tank und setzte rund 40 Tonnen Methylisocyanat (MIC) in die Atmosphäre frei. MIC ist eine leichtflüchtige, sehr reaktive Flüssigkeit, die schon in geringen Konzentrationen Haut- und Schleimhautverätzungen, Augenschädigungen und Lungenödeme hervorrufen kann. Die freigesetzte Giftgaswolke trieb dicht über dem Boden auf ein Wohngebiet zu. Zwischen 2.000 und 10.000 Menschen starben, mehrere Hunderttausend wurden verletzt. Im folgenden werden die Risikosituation vor dem Unglück, die eingeleiteten Maßnahmen des Konzerns zur Schadensbegrenzung sowie zur Wiedergutmachung dargestellt und kritisch analysiert.

Das Unternehmen Union Carbide

Die Union Carbide Corporation zählte 1984 mit einem Umsatz von 9,5 Milliarden US-Dollar zu einem der größten Chemiekonzerne der Welt. Wichtigste Produktsegmente waren zum damalige Zeitpunkt petrochemische Erzeugnisse (28 Prozent des Gesamtumsatzes), Pestizide (26 Prozent), Konsumgüter - wie Autobatterien und Plastikfolien - (20 Prozent), Industriegase (16 Prozent) und Metalle (10 Prozent). Der Konzern profitierte in jener Zeit von einer Erholung der US-amerikanischen Wirtschaft und hatte 1984 ein finanziell erfolgreiches Geschäftsjahr.

Mit 200 Millionen US-Dollar fiel der Umsatz der Union Carbide of India Limited recht bescheiden aus. Das Unternehmen betrieb zum damaligen Zeitpunkt insgesamt 14 Werke auf dem Subkontinent. Die Investitionen der Union Carbide Corporation in Ländern wie Indien erfolgten seit den vierziger Jahren vor allem in der Hoffnung, am Wachstum der nationalen Volkswirtschaften teilzuhaben. Auch die indische Regierung war ihrerseits seit Jahrzehnten bemüht, westliche Investoren ins Land zu holen und gemeinsam mit diesen eine leistungsfähige Industrie aufzubauen. Die Produktion von Pestiziden besaß dabei hohe Priorität. Hierdurch sollte die Landwirtschaft leistungsfähiger gemacht und eine ausreichende Versorgung der Bevölkerung sichergestellt werden. Ausdruck dieser Politik war die 24prozentige Beteiligung von regierungseigenen Unternehmen an der Union Carbide of India Limited. Der Mutterkonzern Union Carbide Corporation hielt 51 Prozent der Anteile.

Im Werk Bhopal der Union Carbide of India Limited wurden seit 1969 Sevin und weitere sogenannte "Carbamatpestizide" produziert. Hierfür diente das MIC als Ausgangsstoff. Dieses wurde zunächst von einer anderen Tochtergesellschaft im Union Carbide Konzern aus den USA importiert. Seit 1979 war im Werk in Bhopal eine eigene Anlage zur Herstellung von MIC vorhanden. Insgesamt stellte Union Carbide im Werk Bhopal pro Jahr etwa 2500 Tonnen Pestizide her. Diese waren hauptsächlich für den indischen Markt bestimmt.

Das Unglück von Bhopal

Ausgangspunkt für die Katastrophe am 3. Dezember 1984 war ein MIC-Vorratsbehälter, der sogenannte Tank 610. Dieser befand sich - zusammen mit zwei weiteren Vorratsbehältern (Tank 611 und 612) - in einem separaten Bereich der Produktionsanlage. Während jeweils zwei Tanks zur Zwischenlagerung des MIC verwendet wurden, diente der verbleibende dritte Tank für Notfälle und nicht spezifikationsgerechte Chargen. Der Transfer des MIC zur Weiterverarbeitung erfolgte durch einen Stickstoffüberdruck von zwei bar, mit dem der Vorratsbehälter "beaufschlagt" wurde. Das für die Produktion des Pestizids Sevin verwendete MIC wurde vor dem Unglück in Chargen zu je einer Tonne aus dem Tank 611 in den Sevin-Produktionsprozess überführt. Tank 610 stand dagegen bereits seit sechs Wochen vor dem Unglück unter Normaldruck, da es zu Problemen mit der Druckbeaufschlagung gekommen war.

In der Nacht zum 3. Dezember 1984 nahmen einigen Mitarbeiter einen leichten MIC-Geruch wahr und versuchten das Leck zu finden. Während dieser Suche waren die Schichtleiter aller Betriebe in einer Teepause und für die Mitarbeiter nicht ansprechbar. Im Verlauf der Suche stiegen Temperatur und Druck im Tank 610 soweit an, daß das Sicherheitsventil ansprach und 24 Tonnen MIC sowie 12 Tonnen weitere Reaktionsprodukte in die Umwelt gelangten - mit den bekannten verheerenden Folgen.

  • Als Ursache für den starken Druckanstieg im Tank 610 wurde ein direkter Wassereintritt in den Behälter ermittelt. Wie es dazu kommen konnte, ist bis heute ungeklärt. Drei mögliche Erklärungen werden in Expertenkreisen geäußert:
  • Ein unsachgemäßer Waschvorgang könnte das Unglück verursacht haben. Hierbei wäre unbeabsichtigt durch das Rohrleitungssystem Wasser in den Tank gelangt.
  • Auch die Sabotage eines unzufriedenen Mitarbeiters wird als mögliche Ursache genannt. So wurde nach dem Unfall eine Wasserleitung vorgefunden, die über einen Manometerstutzen direkt an den Tank angeschlossen war.

  • Schließlich ist auch ein Fehler der Belegschaft bei der Lecksuche nicht auszuschließen. Es könnte versucht worden sein, den Tank 610 mit Stickstoff zu "beaufschlagen". Unachtsamkeit während der Nachtschicht und eigenmächtiges Handeln ohne Absprache mit den Vorgesetzten könnten zu einer Verwechslung der Stickstoffleitung mit einer Wasserleitung geführt haben.

Die Risikosituation vor dem Unglück

Das Ausmaß der Chemiekatastrophe von Bhopal war verheerend. Es stellt sich daher die Frage, ob im Vorfeld des Unglücks möglicherweise Anzeichen für eine kommende Katastrophe ersichtlich waren und welche Maßnahmen Union Carbide zu deren Verhinderung getroffen hat. Im folgenden werden die extern ersichtlichen unternehmerischen Risiken näher analysiert:

  • Umfeldrisiken: Der starke Bevölkerungszuwachs in der Region um Bhopal von 100.000 auf über 670.000 Einwohner innerhalb von 20 Jahren, der schlechte Ausbildungsstand und Informationsdefizite der Bevölkerung wurden vom Unternehmen vor der Katastrophe offensichtlich nicht ausreichend berücksichtigt. So standen für die gesamte Bevölkerung nur 37 öffentliche Telefonapparate zur Verfügung. Die Region verfügte lediglich über zwei Fernleitungen. Diese infrastrukturelle Unterversorgung hatte während des Unglücks Verzögerungen und Informationsdefizite zur Folge. In den ersten Stunden nach dem Unfall mußten sich beispielsweise die Führungskräfte der Union Carbide Corporation in den USA auf telefonisch übertragene BBC-Nachrichten aus Bombay und Neu Delhi verlassen.

Zusätzlich erfolgte im Vorfeld des Unglücks keine umfassende Information der Bevölkerung über die Risiken der Produktionsanlage. Der größte Teil der Bevölkerung glaubte an die Produktion von "Pflanzenmedizin" und wußte nichts über das Gefährdungspotential der Pestizide. Selbst offizielle Stellen hatten keine Informationen über das richtige Verhalten im Gefahrenfall. Hieraus resultierte nach der Freisetzung der Giftgaswolke beispielsweise die Aufforderung offizieller Stellen an die Bevölkerung, den Gefahrenbereich schnell zu verlassen. Dieses verursachte wahrscheinlich zusätzliche Opfer, da das MIC und dessen Reaktionsprodukte durch die körperliche Anstrengung verstärkt inhaliert wurden. Als richtige und wirksame Maßnahme hätten sich die betroffenen Menschen mit einem feuchten Tuch vor dem Mund- und Nasenbereich flach auf den Boden legen sollen. Allein diese Maßnahme hätte vermutlich vielen Menschen das Leben retten können.

  • Marktrisiken: Die von Union Carbide India Limited in Bhopal hergestellten Pestizide waren vor allem für den indischen Markt bestimmt. Neue, in den Pestizidmarkt eingetretene indische Wettbewerber konnten jedoch aufgrund neuerer Produktionsanlagen günstiger produzieren. Der Unternehmensgewinn von Union Carbide India Limited lag nach Steuern lediglich bei 60 Prozent des Gewinns der Wettbewerber. Daher wurde bereits vor dem Unglück ein umfassendes Restrukturierungsprogramm eingeleitet. Dieses führte allerdings zu weitreichenden Problemen innerhalb der Belegschaft. Außerdem sollte die Produktivität der Produktionsanlage durch eine Reihe von Maßnahmen zur Prozessverbesserung erhöht werden. Hierfür wurden auch mehrere Anlagenteile zeitweise außer Betrieb gesetzt. Besonders verhängnisvoll war in diesem Zusammenhang die Stillegung einiger Sicherheitssysteme.
  • Personalwirtschaftliche Risiken: Das bereits erwähnte Restrukturierungsprogramm demoralisierte viele Mitarbeiter. Insbesondere langjährig tätige Führungskräfte verließen das Unternehmen. Den neu eingestellten Managern fehlte oftmals die Erfahrung in der chemischen Industrie. Auch das Betriebsklima der übrigen Belegschaft war schlecht. Vor dem Unglück wurde bereits über mehrere kleine Sabotageakte berichtet.
  • Organisationsrisiken: Finanzielle Überlegungen führten dazu, daß ein computergestütztes Sicherheitssystem, wie es in einem ähnlichen Werk der Union Carbide Corporation in den USA installiert worden war, in Indien nicht zum Einsatz kam. Mit Hilfe eines solchen Systems hätte schneller auf erste Anzeichen der Katastrophe reagiert werden können.
  •  Periphäre Risiken: Katastrophen und andere Großschadensfälle zählen zu den sogenannten "periphären Risiken". Zur Vorbereitung auf solche Zwischenfälle wurde von Union Carbide India Limited eine Reihe von Vorkehrungen getroffen. Während der Katastrophe waren jedoch einige wichtige Sicherheitseinrichtungen - wie der Temperaturalarm, das Notkühlsystem, die Gaswäsche und die Gasverbrennung - außer Betrieb. Lediglich das Überdruckventil war funktionsbereit, so daß das MIC ohne Gaswäsche und Gasverbrennung ungehindert in die Umwelt gelangen konnte. Der nicht funktionsfähige Temperaturalarm und das abgeschaltete Notkühlsystem beschleunigten die Katastrophe und verhinderten aufgrund des schnellen Reaktionsablaufes weitere Maßnahmen während des Unglücks. 

Die Maßnahmen zur Schadensbegrenzung

Von Union Carbide wurden die folgenden Maßnahmen zur Schadensbegrenzung nach dem Unglücksfall eingeleitet:

ZeitEreignisMaßnahmen
Schadenseintritt
(0.15 Uhr Ortszeit in Bhopal)
Druckanstieg im Lagertank 610Das Abpumpen des eingetretenen Wassers scheitert.
innerhalb der ersten sechs Stunden
(6.15 Uhr Ortszeit in Bhopal)
Ausbreitung der giftigen GaswolkeKeine
nach 12 Stunden
(2.15 Uhr Ortszeit in den USA)
Unfallmeldung erreicht die UnternehmensleitungKeine
nach 14,5 Stunden
(4.45 Uhr Ortszeit in den USA)
Erste Presseanfragen bei der Union Carbide CorporationKeine
nach 16 Stunden
(6.15 Uhr Ortszeit in den USA)
Die Unternehmensleitung befaßt sich mit dem Unfall.Einschaltung des Krisenmanagers einer PR-Agentur
nach 25 Stunden  Erste Pressekonferenz
innerhalb des ersten Tages  Der Vorstandsvorsitzende der Union Carbide fliegt nach Bhopal und wird für eine Woche inhaftiert.
innerhalb der ersten Woche  Entsendung von Atemwegspezialisten nach Bhopal.

Der dargestellte Zeitablauf läßt deutliche Defizite in der Schadensbegrenzung direkt nach dem Unfall erkennen:

  • Die Bevölkerung wurde nicht sofort über den Zwischenfall informiert. Zum Schutz der Gesundheit gab es keine Verhaltensregeln.
  • Aufgrund der schlechten Infrastruktur war der Informationsfluß zur Geschäftsleitung sehr langsam und ungenau. Erst 12 Stunden nach dem Unfall erreichten die ersten Meldungen die Unternehmensleitung in den USA. Diese berichteten von lediglich acht bis zwölf Toten in der Bevölkerung. Erst im Laufe des Tages wurde der Unternehmensleitung das gesamte Ausmaß des Unglücks bekannt.
  • Ein entsprechendes Katastrophenszenario war im Krisenmanagementsystem von Union Carbide scheinbar nicht vorhanden. Dementsprechend gab es fast keine Regelungen für einen solchen Zwischenfall.

Die Maßnahmen zur Wiedergutmachung

Das Unglück im Werk Bhopal der Union Carbide India Limited verursachte auch bei der Muttergesellschaft in den USA erhebliche Probleme. Als Hauptanteilseigner wurde die US-amerikanische Union Carbide Corporation für alle Folgen des Unglücks verantwortlich gemacht. Zahlreiche Versuche zur Wiederherstellung des Vertrauens innerhalb der indischen Belegschaft und in der Bevölkerung scheiterten jedoch. Ursächlich hierfür könnte einerseits die hohe Anzahl von Todesopfern und andererseits die unzureichende Informationspolitik des Unternehmens vor und nach dem Unglück gewesen sein. Die folgende Tabelle stellt einige Maßnahmen der Union Carbide Corporation zur Wiedergutmachung nach dem Unglücksfall dar:

ZeitEreignisMaßnahmen
innerhalb des ersten TagesUnglück von Bhopalzwei Millionen US-Dollar für Soforthilfemaßnahmen
innerhalb der ersten WocheMögliche Sicherheitsmängel in einem MIC-Werk in den USA werden bekannt.Vorübergehende Schließung des Werkes; Versuch zur Ermittlung der Unfallursachen; Fortführung des Restrukturierungsprogrammes
nach fünf MonatenZahlreiche Einzelklagen werden eingereicht.fünf Millionen US-Dollar für zusätzliche Hilfsmittel
nach zwei JahrenÜbernahmeversuch durch einen WettbewerberRücktritt des Vorstandsvorsitzenden
nach vier JahrenVerurteilung von einem indischen Gericht470 Millionen US-Dollar Schadensersatzzahlung; Abschluss der Restrukturierung
nach zehn Jahren Baubeginn für ein Krankenhaus in Bhopal
nach 15 JahrenAnklage vor einem US-Gericht nach dem "Alien Tort Claims Act" 
nach 15 JahrenMerger mit DOW Chemical 

Die beiden letzten Ereignisse zeigen, daß das Unglück von Bhopal auch mehr als 15 Jahre nach dem Ereignis die Unternehmensentwicklung nachhaltig beeinflußt hat. So kann beispielsweise der noch offene Ausgang der Klage vor einem US-amerikanischen Gericht weitere Schadensersatzzahlungen zur Folge haben. Die Fusion mit DOW Chemical macht zudem deutlich, wie eines der ehemals größten Industrieunternehmen der Welt durch einen vergleichsweise schlecht bewältigten Unglücksfall zu einem Übernahmekandidat wurde.

Insgesamt waren aus heutiger Sicht die Maßnahmen der Union Carbide Corporation zur Wiedergutmachung im Anschluß an das Unglück nicht erfolgreich. Das Unternehmen konnte seine ursprüngliche Marktposition nicht wiedererlangen.

Autoren

Dr. Marc Pohlkamp
RealTech AG
Industriestraße 39c
D-69190 Walldorf
E-Mail: marc.pohlkamp@gmx.de

Andreas Rolf
Fachhochschule Münster
Fachbereich Chemieingenieurwesen
Labor für Chemische Verfahrenstechnik
Stegerwaldstraße 39
D-48565 Steinfurt
Telefon: +49 (0)25 51 / 96 - 23 98
Telefax: +49 (0)25 51 / 96 - 27 11
Internet: www.fh-muenster.de/FB1
E-Mail: A.Rolf@web.de

Wolfgang Schräder
Westfälische Wilhelms-Universität Münster
Anorganisch-Chemisches Institut
Wilhelm-Klemm-Straße 8
D-48149 Münster
Telefon: +49 (0)251 / 83 - 33119
Telefax: +49 (0)251 / 83 - 33169
Internet: www.uni-muenster.de/Chemie/AC/anders
E-Mail: wolfsch@uni-muenster.de

Erstveröffentlichung im Krisennavigator (ISSN 1619-2389):
4. Jahrgang (2001), Ausgabe 7 (Juli)


Vervielfältigung und Verbreitung - auch auszugsweise - nur mit ausdrücklicher
schriftlicher Genehmigung des Krisennavigator - Institut für Krisenforschung, Kiel.
© Krisennavigator 1998-2024. Alle Rechte vorbehalten. ISSN 1619-2389.
Internet:
www.krisennavigator.de | E-Mail: poststelle@ifk-kiel.de

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Prozeßstörungen als Risikofakto
in der chemischen Industrie:
Der Fall "Bhopal" von Union Carbide

von Dr. Marc Pohlkamp, Andreas Rolf und Wolfgang Schräder

Überblick

Am 3. Dezember 1984 ereignete sich im indischen Bhopal eine der größten Katastrophen in der Geschichte der industriellen Chemie. Im Werk der Union Carbide of India Limited, einer Tochtergesellschaft der Union Carbide Corporation, explodierte ein Tank und setzte rund 40 Tonnen Methylisocyanat (MIC) in die Atmosphäre frei. MIC ist eine leichtflüchtige, sehr reaktive Flüssigkeit, die schon in geringen Konzentrationen Haut- und Schleimhautverätzungen, Augenschädigungen und Lungenödeme hervorrufen kann. Die freigesetzte Giftgaswolke trieb dicht über dem Boden auf ein Wohngebiet zu. Zwischen 2.000 und 10.000 Menschen starben, mehrere Hunderttausend wurden verletzt. Im folgenden werden die Risikosituation vor dem Unglück, die eingeleiteten Maßnahmen des Konzerns zur Schadensbegrenzung sowie zur Wiedergutmachung dargestellt und kritisch analysiert.

Das Unternehmen Union Carbide

Die Union Carbide Corporation zählte 1984 mit einem Umsatz von 9,5 Milliarden US-Dollar zu einem der größten Chemiekonzerne der Welt. Wichtigste Produktsegmente waren zum damalige Zeitpunkt petrochemische Erzeugnisse (28 Prozent des Gesamtumsatzes), Pestizide (26 Prozent), Konsumgüter - wie Autobatterien und Plastikfolien - (20 Prozent), Industriegase (16 Prozent) und Metalle (10 Prozent). Der Konzern profitierte in jener Zeit von einer Erholung der US-amerikanischen Wirtschaft und hatte 1984 ein finanziell erfolgreiches Geschäftsjahr.

Mit 200 Millionen US-Dollar fiel der Umsatz der Union Carbide of India Limited recht bescheiden aus. Das Unternehmen betrieb zum damaligen Zeitpunkt insgesamt 14 Werke auf dem Subkontinent. Die Investitionen der Union Carbide Corporation in Ländern wie Indien erfolgten seit den vierziger Jahren vor allem in der Hoffnung, am Wachstum der nationalen Volkswirtschaften teilzuhaben. Auch die indische Regierung war ihrerseits seit Jahrzehnten bemüht, westliche Investoren ins Land zu holen und gemeinsam mit diesen eine leistungsfähige Industrie aufzubauen. Die Produktion von Pestiziden besaß dabei hohe Priorität. Hierdurch sollte die Landwirtschaft leistungsfähiger gemacht und eine ausreichende Versorgung der Bevölkerung sichergestellt werden. Ausdruck dieser Politik war die 24prozentige Beteiligung von regierungseigenen Unternehmen an der Union Carbide of India Limited. Der Mutterkonzern Union Carbide Corporation hielt 51 Prozent der Anteile.

Im Werk Bhopal der Union Carbide of India Limited wurden seit 1969 Sevin und weitere sogenannte "Carbamatpestizide" produziert. Hierfür diente das MIC als Ausgangsstoff. Dieses wurde zunächst von einer anderen Tochtergesellschaft im Union Carbide Konzern aus den USA importiert. Seit 1979 war im Werk in Bhopal eine eigene Anlage zur Herstellung von MIC vorhanden. Insgesamt stellte Union Carbide im Werk Bhopal pro Jahr etwa 2500 Tonnen Pestizide her. Diese waren hauptsächlich für den indischen Markt bestimmt.

Das Unglück von Bhopal

Ausgangspunkt für die Katastrophe am 3. Dezember 1984 war ein MIC-Vorratsbehälter, der sogenannte Tank 610. Dieser befand sich - zusammen mit zwei weiteren Vorratsbehältern (Tank 611 und 612) - in einem separaten Bereich der Produktionsanlage. Während jeweils zwei Tanks zur Zwischenlagerung des MIC verwendet wurden, diente der verbleibende dritte Tank für Notfälle und nicht spezifikationsgerechte Chargen. Der Transfer des MIC zur Weiterverarbeitung erfolgte durch einen Stickstoffüberdruck von zwei bar, mit dem der Vorratsbehälter "beaufschlagt" wurde. Das für die Produktion des Pestizids Sevin verwendete MIC wurde vor dem Unglück in Chargen zu je einer Tonne aus dem Tank 611 in den Sevin-Produktionsprozess überführt. Tank 610 stand dagegen bereits seit sechs Wochen vor dem Unglück unter Normaldruck, da es zu Problemen mit der Druckbeaufschlagung gekommen war.

In der Nacht zum 3. Dezember 1984 nahmen einigen Mitarbeiter einen leichten MIC-Geruch wahr und versuchten das Leck zu finden. Während dieser Suche waren die Schichtleiter aller Betriebe in einer Teepause und für die Mitarbeiter nicht ansprechbar. Im Verlauf der Suche stiegen Temperatur und Druck im Tank 610 soweit an, daß das Sicherheitsventil ansprach und 24 Tonnen MIC sowie 12 Tonnen weitere Reaktionsprodukte in die Umwelt gelangten - mit den bekannten verheerenden Folgen.

Die Risikosituation vor dem Unglück

Das Ausmaß der Chemiekatastrophe von Bhopal war verheerend. Es stellt sich daher die Frage, ob im Vorfeld des Unglücks möglicherweise Anzeichen für eine kommende Katastrophe ersichtlich waren und welche Maßnahmen Union Carbide zu deren Verhinderung getroffen hat. Im folgenden werden die extern ersichtlichen unternehmerischen Risiken näher analysiert:

Zusätzlich erfolgte im Vorfeld des Unglücks keine umfassende Information der Bevölkerung über die Risiken der Produktionsanlage. Der größte Teil der Bevölkerung glaubte an die Produktion von "Pflanzenmedizin" und wußte nichts über das Gefährdungspotential der Pestizide. Selbst offizielle Stellen hatten keine Informationen über das richtige Verhalten im Gefahrenfall. Hieraus resultierte nach der Freisetzung der Giftgaswolke beispielsweise die Aufforderung offizieller Stellen an die Bevölkerung, den Gefahrenbereich schnell zu verlassen. Dieses verursachte wahrscheinlich zusätzliche Opfer, da das MIC und dessen Reaktionsprodukte durch die körperliche Anstrengung verstärkt inhaliert wurden. Als richtige und wirksame Maßnahme hätten sich die betroffenen Menschen mit einem feuchten Tuch vor dem Mund- und Nasenbereich flach auf den Boden legen sollen. Allein diese Maßnahme hätte vermutlich vielen Menschen das Leben retten können.

Die Maßnahmen zur Schadensbegrenzung

Von Union Carbide wurden die folgenden Maßnahmen zur Schadensbegrenzung nach dem Unglücksfall eingeleitet:

ZeitEreignisMaßnahmen
Schadenseintritt
(0.15 Uhr Ortszeit in Bhopal)
Druckanstieg im Lagertank 610Das Abpumpen des eingetretenen Wassers scheitert.
innerhalb der ersten sechs Stunden
(6.15 Uhr Ortszeit in Bhopal)
Ausbreitung der giftigen GaswolkeKeine
nach 12 Stunden
(2.15 Uhr Ortszeit in den USA)
Unfallmeldung erreicht die UnternehmensleitungKeine
nach 14,5 Stunden
(4.45 Uhr Ortszeit in den USA)
Erste Presseanfragen bei der Union Carbide CorporationKeine
nach 16 Stunden
(6.15 Uhr Ortszeit in den USA)
Die Unternehmensleitung befaßt sich mit dem Unfall.Einschaltung des Krisenmanagers einer PR-Agentur
nach 25 Stunden  Erste Pressekonferenz
innerhalb des ersten Tages  Der Vorstandsvorsitzende der Union Carbide fliegt nach Bhopal und wird für eine Woche inhaftiert.
innerhalb der ersten Woche  Entsendung von Atemwegspezialisten nach Bhopal.

Der dargestellte Zeitablauf läßt deutliche Defizite in der Schadensbegrenzung direkt nach dem Unfall erkennen:

Die Maßnahmen zur Wiedergutmachung

Das Unglück im Werk Bhopal der Union Carbide India Limited verursachte auch bei der Muttergesellschaft in den USA erhebliche Probleme. Als Hauptanteilseigner wurde die US-amerikanische Union Carbide Corporation für alle Folgen des Unglücks verantwortlich gemacht. Zahlreiche Versuche zur Wiederherstellung des Vertrauens innerhalb der indischen Belegschaft und in der Bevölkerung scheiterten jedoch. Ursächlich hierfür könnte einerseits die hohe Anzahl von Todesopfern und andererseits die unzureichende Informationspolitik des Unternehmens vor und nach dem Unglück gewesen sein. Die folgende Tabelle stellt einige Maßnahmen der Union Carbide Corporation zur Wiedergutmachung nach dem Unglücksfall dar:

ZeitEreignisMaßnahmen
innerhalb des ersten TagesUnglück von Bhopalzwei Millionen US-Dollar für Soforthilfemaßnahmen
innerhalb der ersten WocheMögliche Sicherheitsmängel in einem MIC-Werk in den USA werden bekannt.Vorübergehende Schließung des Werkes; Versuch zur Ermittlung der Unfallursachen; Fortführung des Restrukturierungsprogrammes
nach fünf MonatenZahlreiche Einzelklagen werden eingereicht.fünf Millionen US-Dollar für zusätzliche Hilfsmittel
nach zwei JahrenÜbernahmeversuch durch einen WettbewerberRücktritt des Vorstandsvorsitzenden
nach vier JahrenVerurteilung von einem indischen Gericht470 Millionen US-Dollar Schadensersatzzahlung; Abschluss der Restrukturierung
nach zehn Jahren Baubeginn für ein Krankenhaus in Bhopal
nach 15 JahrenAnklage vor einem US-Gericht nach dem "Alien Tort Claims Act" 
nach 15 JahrenMerger mit DOW Chemical 

Die beiden letzten Ereignisse zeigen, daß das Unglück von Bhopal auch mehr als 15 Jahre nach dem Ereignis die Unternehmensentwicklung nachhaltig beeinflußt hat. So kann beispielsweise der noch offene Ausgang der Klage vor einem US-amerikanischen Gericht weitere Schadensersatzzahlungen zur Folge haben. Die Fusion mit DOW Chemical macht zudem deutlich, wie eines der ehemals größten Industrieunternehmen der Welt durch einen vergleichsweise schlecht bewältigten Unglücksfall zu einem Übernahmekandidat wurde.

Insgesamt waren aus heutiger Sicht die Maßnahmen der Union Carbide Corporation zur Wiedergutmachung im Anschluß an das Unglück nicht erfolgreich. Das Unternehmen konnte seine ursprüngliche Marktposition nicht wiedererlangen.

Autoren

Dr. Marc Pohlkamp
RealTech AG
Industriestraße 39c
D-69190 Walldorf
E-Mail: marc.pohlkamp@gmx.de

Andreas Rolf
Fachhochschule Münster
Fachbereich Chemieingenieurwesen
Labor für Chemische Verfahrenstechnik
Stegerwaldstraße 39
D-48565 Steinfurt
Telefon: +49 (0)25 51 / 96 - 23 98
Telefax: +49 (0)25 51 / 96 - 27 11
Internet: www.fh-muenster.de/FB1
E-Mail: A.Rolf@web.de

Wolfgang Schräder
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Telefax: +49 (0)251 / 83 - 33169
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