Ein Spin-Off der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel.
27. Jahrgang (2024) - Ausgabe 4 (April) - ISSN 1619-2389
 

Krisen im Leben und Arbeitsleben -
Chancen zum Wachsen

von Prof. Dr. Bijan Amini

Zum Begriff "Krise"

Eine Krise ist ein Bruch in der Kontinuität und Normalität unseres Lebensverlaufs. Sie zerstört ein bis dato aufgebautes Ich-Welt-Verhältnis und zwingt uns dazu, ein neues Ich-Welt-Verhältnis aufzubauen. Gelingt der Neuaufbau, so verwandelt sich der Bruch in einen Durchbruch, meist sogar in einen Aufbruch. Gelingt er nicht, dann wird aus dem Bruch ein Zusammenbruch. So oder so handelt es sich bei dem Phänomen "Krise" immer um eine Situation, die auf der Kippe steht und entweder gut oder ungut ausgehen kann.

Das entspricht der Etymologie des Wortes "Krise". "krisis" stammt aus dem Griechischen und bedeutet "entscheidende Wendung". In dem Ausdruck "entscheidende Wendung" sind beide Elemente konstitutiv. Zum einen die "Wendung", also der plötzliche und völlig unerwartete Umschwung einer normalen Lebenssituation in eine bedrohliche, wie das bei jeder Naturkatastrophe der Fall ist. Zum anderen die "entscheidende", also die durch Planung, Willen und Vernunft herbeigeführte Veränderung einer Lebenssituation. Beides, sowohl die Machtlosigkeit gegenüber dem Schicksal als auch die aus eigenem Willen herbeigeführte Wende steckt in dem Ausdruck. Von "krisis" sprach man, wo immer zugespitzte Alternativen eine Entscheidung verlangten, eine Entscheidung über Leben und Tod, Erfolg oder Scheitern, Heil oder Verdammnis.

In der neueren Krisenforschung hat man die These aufgestellt, dass Menschen Komplizen ihrer eigenen Lebenskrisen sind. Carl Gustav Jung (geboren 1875, verstorben 1961, Ordinarius für medizinische Psychologie an der Universität Basel, Begründer der Analytischen Psychologie und Psychotherapie) meinte, dass das, was wir Schicksal nennen, uns gar nicht von oben geschickt wird, sondern dass vielmehr wir es selbst sind, die es verursachen oder zumindest bis zu einem gewissen Grad mitverursachen. Deshalb sprach er von Machsal.

Wir können also sehen, dass die Etymologie des Wortes "Krise" weitgehende und tiefliegende psychologische Wurzeln aufweist. Eine hochbedeutsame Wurzel geht auf die Mitwirkung des Menschen selbst zurück. Gerät jemand in eine Krise, so ist er nicht selten selbst von Anfang an dabei gewesen. Insofern sind Krisen hervorragende Botschafter und Sinnträger. Sie verweisen den Menschen auf sich selbst zurück, auf seine Mittäterschaft, auf seine Komplizenschaft und Verantwortung. Sie stellen Hinweisschilder auf dem Weg zum eigenen Ich auf. Krisen sind nicht selten die besten Brücken, über die man gehen muss, wenn man ein neues Lebensgebiet betreten soll. Krisen sind aber auch die reinsten Spiegel, in die man hineinschauen muss, wenn man sein eigenes Gesicht ungeschminkt sehen will. In der Krise zeigt sich der Charakter.

Zum Begriff "Existenz"

An Grenzsituationen des Lebens offenbart sich nicht nur die aktuelle mentale Grenze der Existenz, sondern zugleich auch deren Entfaltungspotential. "Ek-sistieren" heißt über sich selbst hinausgehen, sich und seine momentane Lage überschreiten. Darin ist die beengende Aktualität des Überlebens eingeschlossen, aber auch die unendliche Freiheit des Geistes. Existenz ist immer mehr, als sich darin aktuell finden lässt. Nie ist ein Mensch das, was er ist. Immer ist er mehr, als er ist. Seine aktuelle Lebenslage ist lediglich das Sprungbrett auf dem er steht. Aber der Mensch steht ja nicht wie ein Pfeiler im Boden, sondern er steht, um zu gehen, um voranzukommen. Mit dem einen Fuß drückt er den Boden unter sich ab, um mit dem anderen neuen Boden vor sich zu betreten.

Ständig wandelt der Mensch zwischen der Aktualität und Potentialität. In dieser Bewegung liegt seine Existenz, das heißt die Erfüllung eines Daseins. Das Dasein weiß immer schon, dass es morgen nicht mehr dasselbe ist, was es heute war. Schon während der wenigen Minuten der Lektüre dieses Artikels hat Ihr Körper Millionen neue Zellen gebildet. Sie sind also nicht mehr genau derselbe Mensch. Vielleicht haben Sie eine neue Assoziation gehabt, vielleicht aber auch zwei vorhandene Gedanken neu miteinander verknüpft. Wie auch immer - nicht ich bin es, der das bei Ihnen verursacht hat, jedenfalls nicht allein. Sie sind aktiv gewesen. Sie haben aufgenommen und verarbeitet, was ich geschrieben habe, oder Sie haben es ignoriert.

Ihr Geist wartet nur auf einen Anlass, auf eine Anregung, auf einen Hinweis oder auf eine andere Beleuchtung der Dinge und Zusammenhänge. Und schon erkennen Sie neue Dinge oder vielleicht erkennen Sie die alten Dinge neu. So wird jeder Lernprozess, jeder Impetus und jede Horizonterweiterung zunächst vielleicht von außen motiviert, entscheidend aber ist die innere Verarbeitung. Ohne Ihr Mittun, ohne Ihren aktiven Nachvollzug wäre dieser Artikel nichts als Lufterschütterung.

"Krise" und "Existenz" - zwei ähnliche Begriffe

Eine merkwürdige Strukturaffinität scheint hier vorzuliegen. Krise ist eine Kombination von Schicksal und Machsal, eine Wende, die mir geschickt wird, aber auch eine Wendung, die ich herbeiführe und selbst verantworte. Die entscheidende Wendung wirkt auf mich ein, wirkt sich auf mich aus, und doch bin ich an diesem Wirken nicht unbeteiligt. Begreife ich diesen Zusammenhang von Wirken und Bewirken, dann bin ich der Krise nicht machtlos ausgeliefert. Auch "ziehe" ich mir nicht immer zufällig gerade diese oder jene Krise zu, sondern es ist nicht selten eine bestimmte Krise, die meine Biographie entscheidend prägt. Mein Werdegang spiegelt also meinen Durchgang durch Krisen wider. Mein Charakter bewährt sich nicht nur in der Krise, er bildet sich auch in ihr aus.

Ist da nicht eine Strukturaffinität zwischen "Krise" und "Existenz"? War es bei der Krise die Vernetzung von Schicksal und Machsal, so ist es bei der Existenz die von Aktualität und Potentialität. Führt die Krise von einem Bruch zum Durchbruch und Aufbruch, so führt die Existenz von der Gegenwart und Aktualität hin zu Zukunft und Potentialität. Meine Existenz ist also meine Erscheinung, so wie sie jetzt und hier ist, aber auch eine, wie sie sein könnte und vielleicht werden sollte. Die Gestalt, die ich bin, und die Gestaltung dessen, was ich bin, bilden doch eine Einheit, eben die Existenz. Den gemeinsamen Nenner von Krise und Existenz kann man sich so vorstellen: In beiden Fällen mache ich etwas aus dem, was das Leben mit mir macht. In beiden Fällen nutze ich die äußere Stoßkraft für eine innere Entwicklung.

Polarität

Die Strukturaffinität zwischen Krise und Existenz möchte ich mit dem Begriff "Polarität" beschreiben. Was Polarität ist, wird in einem sehr schönen Zitat von Thomas Mann treffend deutlich: In seinem reifen Altersroman "Joseph und seine Brüder" (Frankfurt am Main, 1986, Seite 542) schreibt er:

"Bedenke aber, daß alles zu zweien ist in der Welt, Stück und Gegenstück, damit man es unterscheide, und wenn neben dem einen das andere nicht wäre, so wären sie beide nicht. Ohne Leben wäre kein Tod, ohne Reichtum die Armut nicht, und käme die Dummheit abhanden, wer wollte von Klugheit reden?"

Das ist eine präzise Beschreibung der Polarität. Ich veranschauliche das Problem didaktisch, indem ich irgend jemandem meinen Kugelschreiber gebe. Dann frage ich die Zuschauer, was sie beobachtet haben. Einige sagen: "Sie haben ihm etwas gegeben." Andere hingegen meinen: "Er hat von Ihnen etwas genommen." Was ist wirklich geschehen? Beides! Ohne Geben gibt es kein Nehmen und umgekehrt. Das ist Polarität. Zwei Ereignisse ergänzen sich so, dass aus zwei Hälften ein Ganzes wird. Das Phänomen kann man in allem Lebendigen beobachten. Das ganze Leben ist eine einzige Schwingung von einem Pol zum anderen. Es beginnt mit Ein- und Ausatmen und setzt sich bis zum Tode im Medium der Polarität fort.

Ich ordne das Phänomen "Krise" in das universale Lebensgesetz der Polarität ein und betrachte sie als einen hervorragenden Auslöser von Entwicklungsprozessen. Die Krise zerstört zwar das derzeitige Ich-Welt-Verhältnis und damit ein Stück Aktualität in unserer Existenz, aber sie öffnet auch eine Chance zum Neubeginn. Der Bruch kann zum Ausbruch aus einem lauen Leben und zum Aufbruch in ein neues Leben werden. Der Ausgang hängt nicht selten von unserem Gang ab. Im Chinesischen heißt das Wort "Krise" übrigens wei-ji. Es besteht aus zwei Zeichen, das eine meint "Gefahr", das andere "Chance". Der Chinese empfindet also schon den Ausdruck "Krise" als Polarität, als Einheit in der Zweiheit, als Gefahr und Chance zugleich.

Bewusstsein

Wie aber ist es zu erklären, dass die meisten Menschen in der Krise nur die eine Hälfte sehen, also nur den Bruch, die Aktualität, das Chaos und die Katastrophe, aber nicht den Aufbruch, die Innovationschance und die Potentialität? Ich meine, dass dies mit der Struktur und der Eigenart des menschlichen Bewusstseins zusammenhängt. Unser Bewusstsein unterscheidet sich von dem eines Tieres darin, dass es sich auf sich selbst bezieht. Die Philosophen nennen das "Selbstbewusstsein". Tiere haben zwar ein Bewusstsein, aber kein Bewusstsein davon, dass sie ein Bewusstsein haben. Abgesehen von höheren Primaten, die nach der neuesten Forschung tatsächlich über ein sehr rudimentäres Selbstbewusstsein verfügen, können Tiere sich selbst nicht thematisieren, sich selbst nicht reflektieren. Dieser Rückbezug auf sich selbst (Selbstreferenz) ist ausschließlich dem menschlichen Bewusstsein vorbehalten.

Daher kann Viktor Frankl (geboren 1905, verstorben 1997, Professor für Neurologie und Psychiatrie an der Universität Wien, Begründer der Logotherapie) mit Recht sagen, dass der Mensch das einzige Lebewesen ist, das sogar seinem Leiden einen Sinn abgewinnen kann. Mehr noch: Im Leiden vollbringt der Mensch eine geistige Leistung. Aber Leiden ist nur dann ein Leisten, wenn der Mensch in ihm einen Sinn sieht. Solange der Mensch sinnlos leidet, erhebt er sich kaum über das Tier. Mit anderen Worten: Es ist das Bewusstsein über die Sinnhaftigkeit seines Leidens, das dem Menschen eine Vorstellung über die Potentialität seiner Existenz ermöglicht. Ich möchte Ihnen ein Beispiel dafür geben:

  • Als mein 83jähriger Vater mich vor zwei Jahren in Kiel besuchte, sagte er "Bijan, das ist das letzte Mal. Ein weiteres Mal schaffe ich es nicht." In seinen Worten lag weder Melancholie noch Sentimentalität, sondern schlichter Realitätssinn. Während der einstündigen Fahrt vom Hamburger Flughafen nach Kiel redete er mehrmals über seinen Tod. Man muss nicht Elisabeth Kübler-Ross sein (Interviews mit Sterbenden, Gütersloh, 15. Auflage, 1990), um herauszuhören, ob es jemandem Ernst ist damit, wenn er von seinem nicht allzu weit entfernten Tode spricht.
  • Am dritten Tag seines Aufenthaltes erkrankte er an einer Gürtelrose und litt so sehr, dass er unbedingt zu seiner Familie nach Teheran zurückfliegen wollte. Für mich war das wie ein Abschiedssignal. Er wollte zu Hause sterben, nicht in der Fremde. Doch der Arzt erklärte ihn für transportunfähig. Das machte ihn depressiv. Von Tag zu Tag ging es ihm schlechter. Er hatte keinen Appetit, nahm sichtlich ab und gab sich schließlich nach wenigen leidvollen Tagen gänzlich auf. Sein einziges Thema war nur noch der Tod, auf den er wie auf eine Erlösung zu warten schien. Angst hatte er übrigens nicht davor, nur das Sterben in der Fremde machte ihm zu schaffen.
  • Meinen Vater liebe ich sehr. Wir haben eine innige Beziehung zueinander. Für mich war er Vater und Mutter. Wenn ich als Kind krank war, setzte er sich solange an mein Krankenbett, bis ich wieder gesund wurde. Anschließend war er nicht selten selbst vor Erschöpfung krank.
  • An all das musste ich zurückdenken, als ich nun, vierzig Jahre später hilflos zusehen musste, wie er dahinschwindet. Da setzte ich mich an sein Bett, nahm seine Hand und sagte: "Wie oft war ich in meiner Kindheit krank, Vater? Wie oft hast Du an meinem Krankenbett gesessen, hast mir die Hand gehalten, mich getröstet und gepflegt? Weißt Du noch, wie Du zu sagen pflegtest: 'Wenn Bijan wieder gesund ist, dann bin ich selbst krank'"?
  • Er konnte sich noch gut daran erinnern und lächelte kraftlos. Dann sagte ich: "Meinst Du nicht, dass ich Dir etwas schulde? Du darfst nicht gehen, bevor nicht auch ich wenigstens einmal Dich gesund gepflegt habe! Bringst Du die Kraft noch auf, um mir diese Chance zu geben?"
  • Er schwieg einige Sekunden, schien Zeit zu brauchen, um das Ausmaß des Opfers zu bedenken, das ich ihm abverlangte. Dann aber leuchteten seine Augen plötzlich auf. Er schien zu begreifen, wozu er litt. Das ihm bekannte Muster wiederholte sich nach vierzig Jahren: Auch jetzt und in der Fremde litt er nämlich um meinetwillen. Am nächsten Tag bekam er Appetit, drei Tage später war er fähig aus eigener Kraft ins Flugzeug zu steigen und heimzufliegen. Ich bin nicht sicher, ob er ohne dieses Gespräch Kiel lebend hätte verlassen können. Das ist die Kraft des Bewusstseins, das selbst im Leiden einen Sinn entdeckt und es gerne auf sich nimmt.

Nicolai Hartmann (Sinngebung und Sinnerfüllung, in: Kleinere Schriften, Band 1: Abhandlungen zur systematischen Philosophie. Berlin 1955, Seite 245 bis 279) hat einmal gesagt, "nach Sinngebung des eigenen Lebens fahnden wir alle, und ohne Sinn zu sehen mag keiner leben."

Sinn

Im Kern unseres Wesens suchen wir alle nach einem Sinn, und im Leiden verfügen wir über eine hervorragend empfindliche und herausragend empfängliche Sinnantenne. Sinn nimmt in jedem menschlichen Leben eine zentrale Stellung ein. Sinn ist der Nukleus unserer Existenz. Es ist nicht möglich, den Begriff Sinn ohne Bezug zum Bewusstsein anzusprechen oder zu fundieren. Wo immer wir Sinn suchen, ist unser Bewusstsein im Spiel. Es war das Bewusstsein meines Vaters, das im Leiden zuerst keinen Sinn sah und sich deshalb aufzugeben schien. Und es war wiederum das Bewusstsein derselben Person, das dann in demselben Leiden einen wertvollen und lebenswerten Sinn entdeckte und deshalb am Leben blieb. An den Fakten hatte sich nichts verändert, aber im Bewusstsein vollzog sich, wie Frankl sagt, eine "kopernikanische Wendung".

Diese Potentialität zu begreifen, sie als Chance wahrzunehmen und dem Sohn noch einmal die Liebe zu beweisen, am Leben zu bleiben, das ist Sinn und zugleich Bewusstsein. Auch hier erkennen wir einen polaren Zusammenhang. Wir können in der Krise mental reifen, wenn wir ihren Sinn begreifen, und wie sollte das ohne Bewusstsein möglich sein? Verfolgen wir die Geistesgeschichte der Menschheit, so erkennen wir von ihren Anfängen bis heute leuchtende Namen, die im Gesamt des kosmischen Geschehens das Gesetz der Polarität erkannt und beschrieben haben: Heraklit, Platon, Hegel, Goethe, Thomas Mann, aber auch Nils Bohr, Erwin Schrödinger, Werner Heisenberg und viele andere.

Die Geschichte der Natur und die Geschichte des Geistes scheinen sich unter dem Gesetz der Polarität ineinander zu spiegeln. Was das Sein mit dem Bewusstsein verbindet, ist die Polarität. Jedes Atom weist dieselbe polare Struktur auf wie jeder kognitive Akt. Friedrich Cramer (Symphonie des Lebendigen: Versuch einer allgemeinen Resonanztheorie, Frankfurt am Main, 1996) hat in seiner allgemeinen Resonanztheorie diesen Zusammenhang in einer unübertroffen präzisen Weise beschrieben. Für mich sind das globale theoretische Zusammenhänge, in die ich das Phänomen "Krise" einzuordnen und zu beschreiben versuche. Gibt es, so frage ich, dimensionalontologisch höhere Gesichtspunkte, von denen aus die Krise als Entwicklungschance sichtbar wird? Entspricht dem äußeren Geschehen eine innere Entwicklung?

Da ist ja zuerst ein äußeres Ereignis, gegen das wir uns wehren. Unser Bewusstsein sperrt sich vehement gegen diesen Unsinn und will diesen Gegenstand gar nicht wahrnehmen, nicht wahrhaben, nicht in sich aufnehmen. In der Krisentheorie spricht man von "Nichtwahrhabenwollen" (vgl. Elisabeth Kübler-Ross, Interviews mit Sterbenden, Gütersloh, 15. Auflage, 1990 und Erika Schuchardt, Jede Krise ist ein neuer Anfang: Aus Lebenskrisen lernen, Düsseldorf, 3. Auflage, 1987). Das ist die Aktualität, die Ist-Situation, der Widerstand des Bewusstseins gegen den Bruch. Was daraus werden soll, ist von uns selbst abhängig. Das Bewusstsein, dem es gelingt, den Widerstand zu überwinden, erkennt in dem Bruch, den es erst nicht wahrhaben wollte, einen neuen Gegenstand, einen Bewusstseinsgegenstand. Es bereichert sich um eben diesen Sinngegenstand und steigt dadurch auf eine höhere Stufe hinauf.

Krisen als Auslöser von Innovationen in der technischen Entwicklung

So betrachtet, ist die Krise gleichsam der helfende Arzt, der uns eine heilsame Spritze gibt. Die Injektion tut zwar weh, aber sie wirkt nach einer Zeit heilend. Wie der Körper nur im Durchgang durch eine Krankheit Immunkräfte entwickelt, so kann sich auch das Bewusstsein in Richtung Geist und die Person in Richtung Persönlichkeit erst im Durchgang durch kritische Lebenserfahrungen entfalten.

Wir müssen die Sinnbotschaft von Lebenskrisen begreifen, nur dann können wir an ihnen reifen. Das ist die Kernaussage der Krisenpädagogik und ihrer wissenschaftstheoretischen Fundierung durch die Polaritätsphilosophie. Krisenpädagogik analysiert Lernprozesse in Krisensituationen, um das menschliche Bewusstsein für den Sinn von Lebensereignissen und für die Sinnrichtung seiner Bewusstseinsentwicklung zu sensibilisieren. Bewusstsein und Sinn sind somit die beiden tragenden Eckpfeiler der Krisenpädagogik.

Krise ist also längst schon Entwicklung, wenn und falls das Bewusstsein ihren Sinn erkennt. In diesem Sinne wünscht einer meiner Kieler Kollegen jedem zum Geburtstag eine schöne Krise. Natürlich erntet er damit zunächst ein Erstaunen, dann aber erklärt er, wie er das eigentlich meint, und schenkt dann dem Geburtstagskind ein Exemplar meines Buches "Nachtstunden des Lebens".

Menschen zu helfen, diesen Zusammenhang zu verstehen, ist das Hauptanliegen der Krisenpädagogik. Sie bietet gleichsam Schwimmkurse an, damit Schiffbrüchige in der Not eine bessere Überlebenschance haben. Krisenpädagogik geht von der Grundüberzeugung aus, dass Lebenskrisen hervorragende Lernchancen bieten. Das Problem liegt in der Überwindung der Widerständigkeit des Bewusstseins. Frankl würde sagen, in der Sinnsuche. Von dem Augenblick an, da sich der Mensch auf die Sinnsuche begibt, hört das Leiden an der Krise eigentlich auf, weil schon das Suchen eine Selbstdistanzierung bedeutet.

Jeder, der seine Krise verstanden und sie also bestanden hat, wird bestätigen, dass er darin eine eigentümliche Botschaft zur Veränderung seines Lebens und seiner Weltsicht erkannt hat. Jeder würde eingestehen, dass ihm darin die Polarität seiner Existenz, nämlich der Zusammenhang von Aktualität und Potentialität, erst im Durchgang durch die Krise bewusst geworden ist. Es ist so: Das Leben wird vorwärts gelebt und rückwärts verstanden. Und doch erleben wir immer wieder trotz besseren Wissens das Gegenteil: Niemand, der gerade in einer Krise steckt, also unter einer Trennung oder Verlust leidet, krank oder arbeitslos geworden ist, mag glauben, dass dies gerade der Beginn einer neuen biographischen Phase ist.

Ich habe die Krisenpädagogik für individuelle schicksalhafte Krisen entwickelt. Ich meine aber, dass das Konzept allgemein genug ist, um auch für gesellschaftliche oder ökonomische Krisen einen grundsätzlichen Beitrag zu leisten. Viele ökonomische Krisen haben nachweislich dazu geführt, dass neue technische Innovationen ermöglicht wurden. Auch hier mochte zu Beginn niemand so recht glauben, dass in dem Untergang eines veralteten Industriezweiges die Geburtstunde eines neuen lag. Ich möchte dafür einige Beispiel anführen. Diese habe ich der Broschüre "25 Jahre Hausinvest" entnommen, einer kleinen Dokumentation der Investmentgesellschaft der Commerzbank.

  • Erstes Beispiel: Das Telefon - In einem internen Memo der Western Union vom Jahre 1876 ist zu lesen: "Das Telefon hat zu viele Nachteile, um als Kommunikationsmittel ernsthaft in Erwägung gezogen zu werden. Es hat keinen Wert für uns." Vor hundert Jahren war dies eine äußerst fundierte und seriöse Aussage. Wer damals daran zweifelte, galt als Fantast, als verrückt. Heute sind die Enkelkinder dieses Verrückten mit Sicherheit Millionäre, sofern sie die Patentrechte ihrer Ahnen geerbt haben.
  • Zweites Beispiel: Das Flugzeug - Der Mensch hat immer schon davon geträumt, wie ein Vogel fliegen zu können. Zahlreiche Erfindungen wurden gemacht, meist nicht ohne Risiko für den Erfinder. Lord Kelvin, Präsident der Royal Society, schrieb im Jahre 1895: "Flugmaschinen, die schwerer sind als Luft, sind unmöglich." Das klang prophetisch, war aber durchaus wissenschaftlich gemeint. Noch heute klingt der Satz für den "gesunden" Menschenverstand plausibel. Und doch sehen wir, dass es geht. Tonnenschwere Maschinen schweben in der Luft, und zwar mit einer unglaublichen Geschwindigkeit. Unsere heutige Welt wäre gänzlich unvorstellbar, würde es keine Flugzeuge geben, und die gesamte Ökonomie würde innerhalb weniger Tage oder Wochen zusammenbrechen.
  • Drittes Beispiel: Der Computer - Die ersten Computer waren Riesenapparaturen, die einen ganzen Raum ausfüllten und mehrere Tonnen wogen. Im Vergleich zu heutigen Computern war aber ihre Leistung geradezu lächerlich. Die erste Maschine, die addieren und subtrahieren konnte, passte gerade in ein Zimmer von 40 Quadratmetern. Das veranlasste Thomas Watson, den Chairman von IBM, im Jahre 1943 folgende Prognose aufzustellen: "Ich glaube, dass der Weltmarkt für Computer nicht größer ist als fünf Stück." 1949, also nur sechs Jahre danach, war in der Zeitschrift "Popular Mechanics" zu lesen: "In naher Zukunft werden Computer kaum mehr wiegen als 1,5 Tonnen." 1977, also knapp 30 Jahre später, glaubte noch Ken Olson, Präsident, Chairman und Gründer der Digital Equipment Corporation: "Es gibt keinen Grund, warum jemand einen Computer zu Hause haben wollte." Heute, 20 Jahre danach, hat fast jeder Schüler in der westlichen Welt einen Personal Computer. Wer mit Bleistift schreibt, gilt heute als altmodisch.

Das sind nur drei Beispiele aus der Geschichte der Technik. Wenn wir heute über sie lachen, so deshalb, weil wir einen zeitlichen Vorsprung haben und den Ausgang schon kennen. Ein anderes ist es, ein Kreuzworträtsel selbst zu lösen, ein anderes, die Lösung zu kennen. Wir sind Nutznießer eines höheren Bewusstseins, deshalb können wir leicht darüber lachen. Aber der technische Fortschritt geht ja weiter. Wer mag, kann heute eine Prognose wagen, und es ist wahrscheinlich, dass auch seine Prognose einige Jahrzehnte später Anlass zum Gelächter geben wird.

Ich will also fair sein zu Lord Kelvin, Thomas Watson, Ken Olson und möchte Sie auffordern, mit mir ähnliche Prognosen zu wagen. Solche Experimente mache ich gern in der Krisenpädagogik. Ich fordere Menschen, die eine Wand 10 Centimeter vor ihrem Blick aufgebaut haben, dazu auf, sich ihre Lebenslage in fünf oder zehn Jahren vorzustellen. Dabei geht es mir um Öffnung von phantasievoller Potentialität. Diese Methode nenne ich "Zeitspiel". Sie wirkt bisweilen unglaublich befreiend. Ob sie auch über die Individualkrisen hinaus ebenso nützlich ist? Ich möchte es riskieren:

  • Erste Prognose: Im Jahre 2050 kann sich jeder reiche Mensch die Unsterblichkeit leisten. Die Wochenration der dafür nötigen Medikamente kostet je Packung nur 3 Millionen US-Dollar. Eine Ration reduziert den Zerfallprozess des Organismus für einen Monat fast auf Null. Zu Risiken und Nebenwirkungen frage man den Arzt oder Apotheker. Leistung lohnt sich also in Zukunft erst recht, denn man kann ewig leben. Allerdings müsste man sehr viel leisten, um ewig leben zu können. Eine schöne und zugleich beklemmende Vorstellung. Der Sinn des Lebens bestünde nur in der Verlängerung des Lebens.
  • Zweite Prognose: Im Jahre 2085 ist die operative Hirn-Computer-Symbiose nahezu risikolos durchführbar. Wollen Touristen z.B. nach China reisen, so lassen sie sich nach einem einwöchigen Kurs in chinesisch einen Chip verpflanzen, der über 2500 chinesische Zeichen verfügt. Das ist mehr als der Durchschnittschinese benötigt, um in seiner Muttersprache zu kommunizieren. Was würde eine solche technische Errungenschaft nicht alles verändern? Schulen wären überflüssig. Lehrer würden arbeitslos, es sei denn, sie würden sich auf die Einpflanzung von Chips spezialisieren. Es gäbe Fachinstitute für Einpflanzung von Chips für Musiker, Mathematiker, Naturwissenschaftler, Juristen und Börsenchart-Analysten.
  • Dritte Prognose: Im Jahre 2030 wird man bei jedem Optiker ein Gedankenlesegerät kaufen können, das wie eine Brille aussieht. Wer eine solche Brille aufsetzt, wird mühelos die Gedanken (natürlich auch Hintergedanken) anderer Leute lesen können. Auch eine solche Innovation stürzt eine Reihe von Menschen in eine schwere Krise. Viele Moralphilosophen und Ethikprofessoren würden gewiss depressiv. Das moralische Problem der Lüge wäre technisch gelöst. Worüber also sollten sie ihre Vorlesungen halten? Staatsmänner und Juristen, Verbrecher und Ehebetrüger, Halsabschneider und Schmeichler werden mit einem Mal buchstäblich überflüssig. Doppelzüngler hätten auf einmal viel Zeit und jede Menge Speicherkapazität in ihrem Gedächtnis. Sie müssten nicht nachdenken, was sie wem in welcher Version gesagt haben. Die Welt wird vor lauter ehrlicher Menschen öde und langweilig. Frauen, die "nein" sagen und "vielleicht" meinen und "vielleicht" sagen und "ja" meinen, was durchaus den Anstandsregeln heutiger Beziehungsanbahnung entspräche, würden altmodisch erscheinen. Männer, die eine Ware todernst verkaufen wollen, ohne auf deren Mängel hinzuweisen, geben die besten Komiker ab. Gerichte werden entlastet, inhumane Verhörmethoden einiger Geheimdienste werden überflüssig, Nachrichtendienste und Abhöranlagen würden abgeschafft. Spionagesatelliten wären obsolet. Wozu aus der Ferne spähen, wenn man nur in die Augen zu schauen brauchte? Der aktuelle Ausdruck "großer Lauschangriff" würde durch den Fachterminus "verstohlener Blick" ersetzt werden, dem kein Verbrecher entkommen könnte. Lohn- und Tarifgespräche würden viel kürzer ausfallen, und die Monika Lewinsky-Affäre des amerikanischen Präsidenten würde zu einer belanglosen Angelegenheit herabsinken. Und der Papst? Wird er vielleicht verschleiert reisen? Das alles sind natürlich Visionen, reine Gedankenspiele. Wie aber, wenn ich nun behauptete, dass der amerikanische Geheimdienst CIA schon heute über solche Brillen verfügt? Wie, wenn ich behaupten würde, dass die Sowjetunion mitsamt ihrer Satellitenstaaten an solchen Brillen zugrundeging? Wie, wenn ich versicherte, dass Karl Lagerfeld ein solches Exemplar für 3,9 Milliarden US-Dollar erworben hat? Es ist bekannt, dass dieser Mann ausgesprochen erfolgreich ist und seine geheimnisvolle Brille niemals absetzt.

Meine Frage ist nun: Glauben Sie, dass diese drei Hypothesen sich bestätigen lassen und eines Tages faktisch eintreten werden? In genau derselben Situation waren damals Männer wie Lord Kelvin, Thomas Watson und Ken Olson. Auch sie konnten sich nicht vorstellen, was alles möglich sein würde. Und warum? Weil sie ihre Bedingungen, ihre Möglichkeiten und ihren Wissensstand zum Fundament von Prognosen machten. Mit anderen Worten: Sie setzten voraus, dass sich alles linear so weiterentwickeln würde wie bisher. Diese Linie zogen sie dann in Gedanken weiter und kamen zu der Extrapolation: Wenn ein Computer ein Gewicht von 1,5 Tonnen oder auch nur 0,8 Tonnen haben würde, was für damalige Zeit schiere Utopie war, so würde es trotzdem nicht mehr als fünf Firmen geben, die sich einen solchen Apparat leisten könnten.

Zeitspiele lernt man, indem man solche Geschichten aus heutiger Sicht liest. Rudolf Steiner berichtet von einem Wissenschaftler, der fest und steif behauptet hatte, eine Eisenbahn, die schneller als 40 km pro Stunde fährt, wäre absolut nutzlos, weil alle Fahrgäste davon Durchfall bekämen. Für Charles Chaplin gab es keinen künstlerischen Ausdruck als die Mimik und die Körpersprache. Ein Schauspieler, der sprach, war für ihn wertlos. Er glaubte, der gute Schauspieler müsse ohne Worte in der Lage sein, jedem Gefühl Ausdruck zu verleihen.

Wir finden ähnliche Denk- und Urteilsmuster in allen Gebieten, in der Wissenschaft, Kunst, Technik und im individuellen Leben. Das operative Schema weist immer dieselbe Struktur auf: Was man weiß, kann und kennt, wird als fester Boden genommen und als etwas Bekanntes betrachtet, von dem aus das Unbekannte erschlossen wird. Was man dabei nicht bedenkt, ist, dass sich die Basis verändert und sich die Voraussetzungen nicht halten.

Theoretisch ausgedrückt: Man kann in einem stabilen System ein Element nach dem anderen verändern und schauen, was geschieht. Alle Veränderungen bleiben dabei systemimmanent. Was aber geschieht, wenn sich das System selbst verändert? Ich möchte Ihnen dafür ein Beispiel geben. Als man Stahlfederuhren baute, da hat man sich darum bemüht, die Uhren so zu konstruieren, dass sie pro Tag nicht mehr als fünf Minuten abwichen. Das war eine hohe Kunst. Man perfektionierte diese Technik, bis die Abweichung auf wenige Sekunden pro Tag reduziert wurde. Das System "Stahlfederuhr" behielt man bei, nur die Elemente wurden präzisiert. Das war eine großartige Leistung und eine erhebliche Erleichterung, die Uhr "nur" einmal die Woche nachstellen zu müssen. Dann aber veränderte sich das System. Elektronische Uhren kamen auf den Markt. Bei diesen betrug die Abweichung nur noch wenige Sekunden im Monat. Für viele Uhrmacher der "alten Schule" war das sicher eine Lebenskrise, für andere ein Neubeginn - je nach Lernbereitschaft und Bewusstseinslage.

Ich betrachte eine solche innovative Systemveränderung als einen Bruch in der Kontinuität und Normalität und somit als eine Krise. Krise und Entwicklung sind hier ein und dasselbe, sie bilden eine Polarität. Wir haben es allemal mit einer Krise zu tun, wenn ein System zusammenbricht. Der alte Uhrmacher wird auf einmal überflüssig. In einem solchen Fall nützt es wenig, mit den alten Elementen noch herumzuexperimentieren. Man muss das Alte hinter sich lassen und nach vorne schauen.

Diese drei Beispiele hatten den Zweck, den Blick für das Neue zu öffnen und das Bewusstsein für die Potentialität zu sensibilisieren. Wenn die Aktualität uns beengt, sehen wir in der Regel zunächst keine Alternative, keine Lösung, keinen Ausweg und keinen Sinn. Wir finden unser Leben verändert, aber nicht im Sinne einer graduellen, sondern im Sinne einer qualitativen oder strukturellen Veränderung. Genau das geschieht im Falle einer ökonomischen Krise. So ging es mit der Uhr, mit dem Telefon, dem Computer, dem Flugzeug und mit vielen anderen technischen Innovationen. Sie alle kamen aufgrund des Bruchs eines technischen Systems zustande. Ohne diesen Bruch würde unser Leben altmodischer aussehen, würden die Computer noch eine Tonne wiegen. Was also müssen wir tun, um mit dem Fortschritt in Technik und Wissenschaft, aber auch im Privatleben mitzuhalten?

Ich möchte aus Sicht der Krisenpädagogik folgende Antwort empfehlen: Wir müssen lernen, Krisen und Brüche als Auslöser für Innovationen zu begreifen und die in ihnen steckenden Chancen für die Entfaltung von Potentialität zu nutzen. Wer sich an irgend etwas klammert und es für das Ende des Wissens oder Könnens hält, der lebt gegen die Dynamik des Lebens. Leben heißt Schwingung von einem Pol zum anderen. Diese Pendelbewegung ist insgesamt undurchschaubar, aber zweifellos sinnträchtig. Leben ist sinnvoll, und wir sind es, die aufgefordert sind, im Auf und Ab des Lebens hin und her schwingend Aufgaben zu lösen, Verantwortung zu übernehmen, Werte zu verwirklichen und Sinn zu erfüllen.

In diesem lebenseigenen Polaritätsgesetz sind Krisen Auslöser von Innovationen. Sie sind extrinsische Motivatoren, die intrinsische Potentiale freisetzen können. Das Leben ist wert, dass wir es voll bewusst und sinnerfüllend leben, jeden Tag von Neuem, jeden Tag als neues Geschenk. Krisen sind hervorragend geeignete Ereignisse, uns den unschätzbaren Wert dieses Geschenkes immer wieder von Neuem ins Bewusstsein zu heben. Ich betrachte die Krise daher als einen "schwarzen Engel", der eine unangenehme, aber heilsame Botschaft vermittelt.

Weiterführende Literatur

Die nachfolgend genannten Bücher sind im Buchhandel leider vergriffen. Sie können aber noch direkt über den Autor bezogen werden:

Bijan Adl-Amini, Krisenpädagogik - Band 1:
Veränderung und Sinn,
Kiel, 2000

  

Bijan Adl-Amini, Nachtstunden des Lebens:
Krisen verstehen - Krisen bestehen,
Freiburg, 1992

  

Bijan Adl-Amini, Innere Harmonie:
Körper, Seele und Geist im Gleichgewicht,
Kiel, 1995

 Autor

Prof. Dr. Bijan Amini
Knooper Weg 181
D-24118 Kiel
Telefon: +49 (0)431 8 13 11
Internet: www.krisenpaedagogik.de
E-Mail: prof.amini@t-online.de

Erstveröffentlichung im Krisennavigator (ISSN 1619-2389):
5. Jahrgang (2002), Ausgabe 11 (November)


Vervielfältigung und Verbreitung - auch auszugsweise - nur mit ausdrücklicher
schriftlicher Genehmigung des Krisennavigator - Institut für Krisenforschung, Kiel.
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Internet:
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Krisen im Leben und Arbeitsleben -
Chancen zum Wachsen

von Prof. Dr. Bijan Amini

Zum Begriff "Krise"

Eine Krise ist ein Bruch in der Kontinuität und Normalität unseres Lebensverlaufs. Sie zerstört ein bis dato aufgebautes Ich-Welt-Verhältnis und zwingt uns dazu, ein neues Ich-Welt-Verhältnis aufzubauen. Gelingt der Neuaufbau, so verwandelt sich der Bruch in einen Durchbruch, meist sogar in einen Aufbruch. Gelingt er nicht, dann wird aus dem Bruch ein Zusammenbruch. So oder so handelt es sich bei dem Phänomen "Krise" immer um eine Situation, die auf der Kippe steht und entweder gut oder ungut ausgehen kann.

Das entspricht der Etymologie des Wortes "Krise". "krisis" stammt aus dem Griechischen und bedeutet "entscheidende Wendung". In dem Ausdruck "entscheidende Wendung" sind beide Elemente konstitutiv. Zum einen die "Wendung", also der plötzliche und völlig unerwartete Umschwung einer normalen Lebenssituation in eine bedrohliche, wie das bei jeder Naturkatastrophe der Fall ist. Zum anderen die "entscheidende", also die durch Planung, Willen und Vernunft herbeigeführte Veränderung einer Lebenssituation. Beides, sowohl die Machtlosigkeit gegenüber dem Schicksal als auch die aus eigenem Willen herbeigeführte Wende steckt in dem Ausdruck. Von "krisis" sprach man, wo immer zugespitzte Alternativen eine Entscheidung verlangten, eine Entscheidung über Leben und Tod, Erfolg oder Scheitern, Heil oder Verdammnis.

In der neueren Krisenforschung hat man die These aufgestellt, dass Menschen Komplizen ihrer eigenen Lebenskrisen sind. Carl Gustav Jung (geboren 1875, verstorben 1961, Ordinarius für medizinische Psychologie an der Universität Basel, Begründer der Analytischen Psychologie und Psychotherapie) meinte, dass das, was wir Schicksal nennen, uns gar nicht von oben geschickt wird, sondern dass vielmehr wir es selbst sind, die es verursachen oder zumindest bis zu einem gewissen Grad mitverursachen. Deshalb sprach er von Machsal.

Wir können also sehen, dass die Etymologie des Wortes "Krise" weitgehende und tiefliegende psychologische Wurzeln aufweist. Eine hochbedeutsame Wurzel geht auf die Mitwirkung des Menschen selbst zurück. Gerät jemand in eine Krise, so ist er nicht selten selbst von Anfang an dabei gewesen. Insofern sind Krisen hervorragende Botschafter und Sinnträger. Sie verweisen den Menschen auf sich selbst zurück, auf seine Mittäterschaft, auf seine Komplizenschaft und Verantwortung. Sie stellen Hinweisschilder auf dem Weg zum eigenen Ich auf. Krisen sind nicht selten die besten Brücken, über die man gehen muss, wenn man ein neues Lebensgebiet betreten soll. Krisen sind aber auch die reinsten Spiegel, in die man hineinschauen muss, wenn man sein eigenes Gesicht ungeschminkt sehen will. In der Krise zeigt sich der Charakter.

Zum Begriff "Existenz"

An Grenzsituationen des Lebens offenbart sich nicht nur die aktuelle mentale Grenze der Existenz, sondern zugleich auch deren Entfaltungspotential. "Ek-sistieren" heißt über sich selbst hinausgehen, sich und seine momentane Lage überschreiten. Darin ist die beengende Aktualität des Überlebens eingeschlossen, aber auch die unendliche Freiheit des Geistes. Existenz ist immer mehr, als sich darin aktuell finden lässt. Nie ist ein Mensch das, was er ist. Immer ist er mehr, als er ist. Seine aktuelle Lebenslage ist lediglich das Sprungbrett auf dem er steht. Aber der Mensch steht ja nicht wie ein Pfeiler im Boden, sondern er steht, um zu gehen, um voranzukommen. Mit dem einen Fuß drückt er den Boden unter sich ab, um mit dem anderen neuen Boden vor sich zu betreten.

Ständig wandelt der Mensch zwischen der Aktualität und Potentialität. In dieser Bewegung liegt seine Existenz, das heißt die Erfüllung eines Daseins. Das Dasein weiß immer schon, dass es morgen nicht mehr dasselbe ist, was es heute war. Schon während der wenigen Minuten der Lektüre dieses Artikels hat Ihr Körper Millionen neue Zellen gebildet. Sie sind also nicht mehr genau derselbe Mensch. Vielleicht haben Sie eine neue Assoziation gehabt, vielleicht aber auch zwei vorhandene Gedanken neu miteinander verknüpft. Wie auch immer - nicht ich bin es, der das bei Ihnen verursacht hat, jedenfalls nicht allein. Sie sind aktiv gewesen. Sie haben aufgenommen und verarbeitet, was ich geschrieben habe, oder Sie haben es ignoriert.

Ihr Geist wartet nur auf einen Anlass, auf eine Anregung, auf einen Hinweis oder auf eine andere Beleuchtung der Dinge und Zusammenhänge. Und schon erkennen Sie neue Dinge oder vielleicht erkennen Sie die alten Dinge neu. So wird jeder Lernprozess, jeder Impetus und jede Horizonterweiterung zunächst vielleicht von außen motiviert, entscheidend aber ist die innere Verarbeitung. Ohne Ihr Mittun, ohne Ihren aktiven Nachvollzug wäre dieser Artikel nichts als Lufterschütterung.

"Krise" und "Existenz" - zwei ähnliche Begriffe

Eine merkwürdige Strukturaffinität scheint hier vorzuliegen. Krise ist eine Kombination von Schicksal und Machsal, eine Wende, die mir geschickt wird, aber auch eine Wendung, die ich herbeiführe und selbst verantworte. Die entscheidende Wendung wirkt auf mich ein, wirkt sich auf mich aus, und doch bin ich an diesem Wirken nicht unbeteiligt. Begreife ich diesen Zusammenhang von Wirken und Bewirken, dann bin ich der Krise nicht machtlos ausgeliefert. Auch "ziehe" ich mir nicht immer zufällig gerade diese oder jene Krise zu, sondern es ist nicht selten eine bestimmte Krise, die meine Biographie entscheidend prägt. Mein Werdegang spiegelt also meinen Durchgang durch Krisen wider. Mein Charakter bewährt sich nicht nur in der Krise, er bildet sich auch in ihr aus.

Ist da nicht eine Strukturaffinität zwischen "Krise" und "Existenz"? War es bei der Krise die Vernetzung von Schicksal und Machsal, so ist es bei der Existenz die von Aktualität und Potentialität. Führt die Krise von einem Bruch zum Durchbruch und Aufbruch, so führt die Existenz von der Gegenwart und Aktualität hin zu Zukunft und Potentialität. Meine Existenz ist also meine Erscheinung, so wie sie jetzt und hier ist, aber auch eine, wie sie sein könnte und vielleicht werden sollte. Die Gestalt, die ich bin, und die Gestaltung dessen, was ich bin, bilden doch eine Einheit, eben die Existenz. Den gemeinsamen Nenner von Krise und Existenz kann man sich so vorstellen: In beiden Fällen mache ich etwas aus dem, was das Leben mit mir macht. In beiden Fällen nutze ich die äußere Stoßkraft für eine innere Entwicklung.

Polarität

Die Strukturaffinität zwischen Krise und Existenz möchte ich mit dem Begriff "Polarität" beschreiben. Was Polarität ist, wird in einem sehr schönen Zitat von Thomas Mann treffend deutlich: In seinem reifen Altersroman "Joseph und seine Brüder" (Frankfurt am Main, 1986, Seite 542) schreibt er:

"Bedenke aber, daß alles zu zweien ist in der Welt, Stück und Gegenstück, damit man es unterscheide, und wenn neben dem einen das andere nicht wäre, so wären sie beide nicht. Ohne Leben wäre kein Tod, ohne Reichtum die Armut nicht, und käme die Dummheit abhanden, wer wollte von Klugheit reden?"

Das ist eine präzise Beschreibung der Polarität. Ich veranschauliche das Problem didaktisch, indem ich irgend jemandem meinen Kugelschreiber gebe. Dann frage ich die Zuschauer, was sie beobachtet haben. Einige sagen: "Sie haben ihm etwas gegeben." Andere hingegen meinen: "Er hat von Ihnen etwas genommen." Was ist wirklich geschehen? Beides! Ohne Geben gibt es kein Nehmen und umgekehrt. Das ist Polarität. Zwei Ereignisse ergänzen sich so, dass aus zwei Hälften ein Ganzes wird. Das Phänomen kann man in allem Lebendigen beobachten. Das ganze Leben ist eine einzige Schwingung von einem Pol zum anderen. Es beginnt mit Ein- und Ausatmen und setzt sich bis zum Tode im Medium der Polarität fort.

Ich ordne das Phänomen "Krise" in das universale Lebensgesetz der Polarität ein und betrachte sie als einen hervorragenden Auslöser von Entwicklungsprozessen. Die Krise zerstört zwar das derzeitige Ich-Welt-Verhältnis und damit ein Stück Aktualität in unserer Existenz, aber sie öffnet auch eine Chance zum Neubeginn. Der Bruch kann zum Ausbruch aus einem lauen Leben und zum Aufbruch in ein neues Leben werden. Der Ausgang hängt nicht selten von unserem Gang ab. Im Chinesischen heißt das Wort "Krise" übrigens wei-ji. Es besteht aus zwei Zeichen, das eine meint "Gefahr", das andere "Chance". Der Chinese empfindet also schon den Ausdruck "Krise" als Polarität, als Einheit in der Zweiheit, als Gefahr und Chance zugleich.

Bewusstsein

Wie aber ist es zu erklären, dass die meisten Menschen in der Krise nur die eine Hälfte sehen, also nur den Bruch, die Aktualität, das Chaos und die Katastrophe, aber nicht den Aufbruch, die Innovationschance und die Potentialität? Ich meine, dass dies mit der Struktur und der Eigenart des menschlichen Bewusstseins zusammenhängt. Unser Bewusstsein unterscheidet sich von dem eines Tieres darin, dass es sich auf sich selbst bezieht. Die Philosophen nennen das "Selbstbewusstsein". Tiere haben zwar ein Bewusstsein, aber kein Bewusstsein davon, dass sie ein Bewusstsein haben. Abgesehen von höheren Primaten, die nach der neuesten Forschung tatsächlich über ein sehr rudimentäres Selbstbewusstsein verfügen, können Tiere sich selbst nicht thematisieren, sich selbst nicht reflektieren. Dieser Rückbezug auf sich selbst (Selbstreferenz) ist ausschließlich dem menschlichen Bewusstsein vorbehalten.

Daher kann Viktor Frankl (geboren 1905, verstorben 1997, Professor für Neurologie und Psychiatrie an der Universität Wien, Begründer der Logotherapie) mit Recht sagen, dass der Mensch das einzige Lebewesen ist, das sogar seinem Leiden einen Sinn abgewinnen kann. Mehr noch: Im Leiden vollbringt der Mensch eine geistige Leistung. Aber Leiden ist nur dann ein Leisten, wenn der Mensch in ihm einen Sinn sieht. Solange der Mensch sinnlos leidet, erhebt er sich kaum über das Tier. Mit anderen Worten: Es ist das Bewusstsein über die Sinnhaftigkeit seines Leidens, das dem Menschen eine Vorstellung über die Potentialität seiner Existenz ermöglicht. Ich möchte Ihnen ein Beispiel dafür geben:

Nicolai Hartmann (Sinngebung und Sinnerfüllung, in: Kleinere Schriften, Band 1: Abhandlungen zur systematischen Philosophie. Berlin 1955, Seite 245 bis 279) hat einmal gesagt, "nach Sinngebung des eigenen Lebens fahnden wir alle, und ohne Sinn zu sehen mag keiner leben."

Sinn

Im Kern unseres Wesens suchen wir alle nach einem Sinn, und im Leiden verfügen wir über eine hervorragend empfindliche und herausragend empfängliche Sinnantenne. Sinn nimmt in jedem menschlichen Leben eine zentrale Stellung ein. Sinn ist der Nukleus unserer Existenz. Es ist nicht möglich, den Begriff Sinn ohne Bezug zum Bewusstsein anzusprechen oder zu fundieren. Wo immer wir Sinn suchen, ist unser Bewusstsein im Spiel. Es war das Bewusstsein meines Vaters, das im Leiden zuerst keinen Sinn sah und sich deshalb aufzugeben schien. Und es war wiederum das Bewusstsein derselben Person, das dann in demselben Leiden einen wertvollen und lebenswerten Sinn entdeckte und deshalb am Leben blieb. An den Fakten hatte sich nichts verändert, aber im Bewusstsein vollzog sich, wie Frankl sagt, eine "kopernikanische Wendung".

Diese Potentialität zu begreifen, sie als Chance wahrzunehmen und dem Sohn noch einmal die Liebe zu beweisen, am Leben zu bleiben, das ist Sinn und zugleich Bewusstsein. Auch hier erkennen wir einen polaren Zusammenhang. Wir können in der Krise mental reifen, wenn wir ihren Sinn begreifen, und wie sollte das ohne Bewusstsein möglich sein? Verfolgen wir die Geistesgeschichte der Menschheit, so erkennen wir von ihren Anfängen bis heute leuchtende Namen, die im Gesamt des kosmischen Geschehens das Gesetz der Polarität erkannt und beschrieben haben: Heraklit, Platon, Hegel, Goethe, Thomas Mann, aber auch Nils Bohr, Erwin Schrödinger, Werner Heisenberg und viele andere.

Die Geschichte der Natur und die Geschichte des Geistes scheinen sich unter dem Gesetz der Polarität ineinander zu spiegeln. Was das Sein mit dem Bewusstsein verbindet, ist die Polarität. Jedes Atom weist dieselbe polare Struktur auf wie jeder kognitive Akt. Friedrich Cramer (Symphonie des Lebendigen: Versuch einer allgemeinen Resonanztheorie, Frankfurt am Main, 1996) hat in seiner allgemeinen Resonanztheorie diesen Zusammenhang in einer unübertroffen präzisen Weise beschrieben. Für mich sind das globale theoretische Zusammenhänge, in die ich das Phänomen "Krise" einzuordnen und zu beschreiben versuche. Gibt es, so frage ich, dimensionalontologisch höhere Gesichtspunkte, von denen aus die Krise als Entwicklungschance sichtbar wird? Entspricht dem äußeren Geschehen eine innere Entwicklung?

Da ist ja zuerst ein äußeres Ereignis, gegen das wir uns wehren. Unser Bewusstsein sperrt sich vehement gegen diesen Unsinn und will diesen Gegenstand gar nicht wahrnehmen, nicht wahrhaben, nicht in sich aufnehmen. In der Krisentheorie spricht man von "Nichtwahrhabenwollen" (vgl. Elisabeth Kübler-Ross, Interviews mit Sterbenden, Gütersloh, 15. Auflage, 1990 und Erika Schuchardt, Jede Krise ist ein neuer Anfang: Aus Lebenskrisen lernen, Düsseldorf, 3. Auflage, 1987). Das ist die Aktualität, die Ist-Situation, der Widerstand des Bewusstseins gegen den Bruch. Was daraus werden soll, ist von uns selbst abhängig. Das Bewusstsein, dem es gelingt, den Widerstand zu überwinden, erkennt in dem Bruch, den es erst nicht wahrhaben wollte, einen neuen Gegenstand, einen Bewusstseinsgegenstand. Es bereichert sich um eben diesen Sinngegenstand und steigt dadurch auf eine höhere Stufe hinauf.

Krisen als Auslöser von Innovationen in der technischen Entwicklung

So betrachtet, ist die Krise gleichsam der helfende Arzt, der uns eine heilsame Spritze gibt. Die Injektion tut zwar weh, aber sie wirkt nach einer Zeit heilend. Wie der Körper nur im Durchgang durch eine Krankheit Immunkräfte entwickelt, so kann sich auch das Bewusstsein in Richtung Geist und die Person in Richtung Persönlichkeit erst im Durchgang durch kritische Lebenserfahrungen entfalten.

Wir müssen die Sinnbotschaft von Lebenskrisen begreifen, nur dann können wir an ihnen reifen. Das ist die Kernaussage der Krisenpädagogik und ihrer wissenschaftstheoretischen Fundierung durch die Polaritätsphilosophie. Krisenpädagogik analysiert Lernprozesse in Krisensituationen, um das menschliche Bewusstsein für den Sinn von Lebensereignissen und für die Sinnrichtung seiner Bewusstseinsentwicklung zu sensibilisieren. Bewusstsein und Sinn sind somit die beiden tragenden Eckpfeiler der Krisenpädagogik.

Krise ist also längst schon Entwicklung, wenn und falls das Bewusstsein ihren Sinn erkennt. In diesem Sinne wünscht einer meiner Kieler Kollegen jedem zum Geburtstag eine schöne Krise. Natürlich erntet er damit zunächst ein Erstaunen, dann aber erklärt er, wie er das eigentlich meint, und schenkt dann dem Geburtstagskind ein Exemplar meines Buches "Nachtstunden des Lebens".

Menschen zu helfen, diesen Zusammenhang zu verstehen, ist das Hauptanliegen der Krisenpädagogik. Sie bietet gleichsam Schwimmkurse an, damit Schiffbrüchige in der Not eine bessere Überlebenschance haben. Krisenpädagogik geht von der Grundüberzeugung aus, dass Lebenskrisen hervorragende Lernchancen bieten. Das Problem liegt in der Überwindung der Widerständigkeit des Bewusstseins. Frankl würde sagen, in der Sinnsuche. Von dem Augenblick an, da sich der Mensch auf die Sinnsuche begibt, hört das Leiden an der Krise eigentlich auf, weil schon das Suchen eine Selbstdistanzierung bedeutet.

Jeder, der seine Krise verstanden und sie also bestanden hat, wird bestätigen, dass er darin eine eigentümliche Botschaft zur Veränderung seines Lebens und seiner Weltsicht erkannt hat. Jeder würde eingestehen, dass ihm darin die Polarität seiner Existenz, nämlich der Zusammenhang von Aktualität und Potentialität, erst im Durchgang durch die Krise bewusst geworden ist. Es ist so: Das Leben wird vorwärts gelebt und rückwärts verstanden. Und doch erleben wir immer wieder trotz besseren Wissens das Gegenteil: Niemand, der gerade in einer Krise steckt, also unter einer Trennung oder Verlust leidet, krank oder arbeitslos geworden ist, mag glauben, dass dies gerade der Beginn einer neuen biographischen Phase ist.

Ich habe die Krisenpädagogik für individuelle schicksalhafte Krisen entwickelt. Ich meine aber, dass das Konzept allgemein genug ist, um auch für gesellschaftliche oder ökonomische Krisen einen grundsätzlichen Beitrag zu leisten. Viele ökonomische Krisen haben nachweislich dazu geführt, dass neue technische Innovationen ermöglicht wurden. Auch hier mochte zu Beginn niemand so recht glauben, dass in dem Untergang eines veralteten Industriezweiges die Geburtstunde eines neuen lag. Ich möchte dafür einige Beispiel anführen. Diese habe ich der Broschüre "25 Jahre Hausinvest" entnommen, einer kleinen Dokumentation der Investmentgesellschaft der Commerzbank.

Das sind nur drei Beispiele aus der Geschichte der Technik. Wenn wir heute über sie lachen, so deshalb, weil wir einen zeitlichen Vorsprung haben und den Ausgang schon kennen. Ein anderes ist es, ein Kreuzworträtsel selbst zu lösen, ein anderes, die Lösung zu kennen. Wir sind Nutznießer eines höheren Bewusstseins, deshalb können wir leicht darüber lachen. Aber der technische Fortschritt geht ja weiter. Wer mag, kann heute eine Prognose wagen, und es ist wahrscheinlich, dass auch seine Prognose einige Jahrzehnte später Anlass zum Gelächter geben wird.

Ich will also fair sein zu Lord Kelvin, Thomas Watson, Ken Olson und möchte Sie auffordern, mit mir ähnliche Prognosen zu wagen. Solche Experimente mache ich gern in der Krisenpädagogik. Ich fordere Menschen, die eine Wand 10 Centimeter vor ihrem Blick aufgebaut haben, dazu auf, sich ihre Lebenslage in fünf oder zehn Jahren vorzustellen. Dabei geht es mir um Öffnung von phantasievoller Potentialität. Diese Methode nenne ich "Zeitspiel". Sie wirkt bisweilen unglaublich befreiend. Ob sie auch über die Individualkrisen hinaus ebenso nützlich ist? Ich möchte es riskieren:

Meine Frage ist nun: Glauben Sie, dass diese drei Hypothesen sich bestätigen lassen und eines Tages faktisch eintreten werden? In genau derselben Situation waren damals Männer wie Lord Kelvin, Thomas Watson und Ken Olson. Auch sie konnten sich nicht vorstellen, was alles möglich sein würde. Und warum? Weil sie ihre Bedingungen, ihre Möglichkeiten und ihren Wissensstand zum Fundament von Prognosen machten. Mit anderen Worten: Sie setzten voraus, dass sich alles linear so weiterentwickeln würde wie bisher. Diese Linie zogen sie dann in Gedanken weiter und kamen zu der Extrapolation: Wenn ein Computer ein Gewicht von 1,5 Tonnen oder auch nur 0,8 Tonnen haben würde, was für damalige Zeit schiere Utopie war, so würde es trotzdem nicht mehr als fünf Firmen geben, die sich einen solchen Apparat leisten könnten.

Zeitspiele lernt man, indem man solche Geschichten aus heutiger Sicht liest. Rudolf Steiner berichtet von einem Wissenschaftler, der fest und steif behauptet hatte, eine Eisenbahn, die schneller als 40 km pro Stunde fährt, wäre absolut nutzlos, weil alle Fahrgäste davon Durchfall bekämen. Für Charles Chaplin gab es keinen künstlerischen Ausdruck als die Mimik und die Körpersprache. Ein Schauspieler, der sprach, war für ihn wertlos. Er glaubte, der gute Schauspieler müsse ohne Worte in der Lage sein, jedem Gefühl Ausdruck zu verleihen.

Wir finden ähnliche Denk- und Urteilsmuster in allen Gebieten, in der Wissenschaft, Kunst, Technik und im individuellen Leben. Das operative Schema weist immer dieselbe Struktur auf: Was man weiß, kann und kennt, wird als fester Boden genommen und als etwas Bekanntes betrachtet, von dem aus das Unbekannte erschlossen wird. Was man dabei nicht bedenkt, ist, dass sich die Basis verändert und sich die Voraussetzungen nicht halten.

Theoretisch ausgedrückt: Man kann in einem stabilen System ein Element nach dem anderen verändern und schauen, was geschieht. Alle Veränderungen bleiben dabei systemimmanent. Was aber geschieht, wenn sich das System selbst verändert? Ich möchte Ihnen dafür ein Beispiel geben. Als man Stahlfederuhren baute, da hat man sich darum bemüht, die Uhren so zu konstruieren, dass sie pro Tag nicht mehr als fünf Minuten abwichen. Das war eine hohe Kunst. Man perfektionierte diese Technik, bis die Abweichung auf wenige Sekunden pro Tag reduziert wurde. Das System "Stahlfederuhr" behielt man bei, nur die Elemente wurden präzisiert. Das war eine großartige Leistung und eine erhebliche Erleichterung, die Uhr "nur" einmal die Woche nachstellen zu müssen. Dann aber veränderte sich das System. Elektronische Uhren kamen auf den Markt. Bei diesen betrug die Abweichung nur noch wenige Sekunden im Monat. Für viele Uhrmacher der "alten Schule" war das sicher eine Lebenskrise, für andere ein Neubeginn - je nach Lernbereitschaft und Bewusstseinslage.

Ich betrachte eine solche innovative Systemveränderung als einen Bruch in der Kontinuität und Normalität und somit als eine Krise. Krise und Entwicklung sind hier ein und dasselbe, sie bilden eine Polarität. Wir haben es allemal mit einer Krise zu tun, wenn ein System zusammenbricht. Der alte Uhrmacher wird auf einmal überflüssig. In einem solchen Fall nützt es wenig, mit den alten Elementen noch herumzuexperimentieren. Man muss das Alte hinter sich lassen und nach vorne schauen.

Diese drei Beispiele hatten den Zweck, den Blick für das Neue zu öffnen und das Bewusstsein für die Potentialität zu sensibilisieren. Wenn die Aktualität uns beengt, sehen wir in der Regel zunächst keine Alternative, keine Lösung, keinen Ausweg und keinen Sinn. Wir finden unser Leben verändert, aber nicht im Sinne einer graduellen, sondern im Sinne einer qualitativen oder strukturellen Veränderung. Genau das geschieht im Falle einer ökonomischen Krise. So ging es mit der Uhr, mit dem Telefon, dem Computer, dem Flugzeug und mit vielen anderen technischen Innovationen. Sie alle kamen aufgrund des Bruchs eines technischen Systems zustande. Ohne diesen Bruch würde unser Leben altmodischer aussehen, würden die Computer noch eine Tonne wiegen. Was also müssen wir tun, um mit dem Fortschritt in Technik und Wissenschaft, aber auch im Privatleben mitzuhalten?

Ich möchte aus Sicht der Krisenpädagogik folgende Antwort empfehlen: Wir müssen lernen, Krisen und Brüche als Auslöser für Innovationen zu begreifen und die in ihnen steckenden Chancen für die Entfaltung von Potentialität zu nutzen. Wer sich an irgend etwas klammert und es für das Ende des Wissens oder Könnens hält, der lebt gegen die Dynamik des Lebens. Leben heißt Schwingung von einem Pol zum anderen. Diese Pendelbewegung ist insgesamt undurchschaubar, aber zweifellos sinnträchtig. Leben ist sinnvoll, und wir sind es, die aufgefordert sind, im Auf und Ab des Lebens hin und her schwingend Aufgaben zu lösen, Verantwortung zu übernehmen, Werte zu verwirklichen und Sinn zu erfüllen.

In diesem lebenseigenen Polaritätsgesetz sind Krisen Auslöser von Innovationen. Sie sind extrinsische Motivatoren, die intrinsische Potentiale freisetzen können. Das Leben ist wert, dass wir es voll bewusst und sinnerfüllend leben, jeden Tag von Neuem, jeden Tag als neues Geschenk. Krisen sind hervorragend geeignete Ereignisse, uns den unschätzbaren Wert dieses Geschenkes immer wieder von Neuem ins Bewusstsein zu heben. Ich betrachte die Krise daher als einen "schwarzen Engel", der eine unangenehme, aber heilsame Botschaft vermittelt.

Weiterführende Literatur

Die nachfolgend genannten Bücher sind im Buchhandel leider vergriffen. Sie können aber noch direkt über den Autor bezogen werden:

Bijan Adl-Amini, Krisenpädagogik - Band 1:
Veränderung und Sinn,
Kiel, 2000

  

Bijan Adl-Amini, Nachtstunden des Lebens:
Krisen verstehen - Krisen bestehen,
Freiburg, 1992

  

Bijan Adl-Amini, Innere Harmonie:
Körper, Seele und Geist im Gleichgewicht,
Kiel, 1995

 Autor

Prof. Dr. Bijan Amini
Knooper Weg 181
D-24118 Kiel
Telefon: +49 (0)431 8 13 11
Internet: www.krisenpaedagogik.de
E-Mail: prof.amini@t-online.de

Erstveröffentlichung im Krisennavigator (ISSN 1619-2389):
5. Jahrgang (2002), Ausgabe 11 (November)

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Letzte Aktualisierung: Freitag, 19. April 2024

       

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